18. Oktober 2010

First day of my life

Es ist Zeit. Am ersten Tag des Lebens wacht man von dem durch den Vorhang strömenden Sonnenstrahl auf - angenommen, wäre es ein warmer Julitag. Im Oktober ist es eher ein schlotternder Luftstrom, der die Fensterscheibe zerbrechend in das Zimmer vom Norden ziehend hineinreißen möchte und der auch seine Bestimmung findet, sobald der Kaffee auf dem Holztisch in der Küche duftend gegossen wird, mit ein paar Tropfen am Becher vorbei, die warmen Socken zum Ausgehen in die Stiefel bereit gelegt werden und der Pyjama, wie die letzte verwelkte Blüte der Wärme abgeworfen wird. Man steht unter der Dusche, das Wasser glättet das Gemüt zusammen mit dem Haar. Man versucht, die Gedanken - sämtliche Gedanken - zusammen mit dem in den Abfluss fließenden Duschgel - von sich abwaschen zu lassen. Danach kommt man im Reinen mit sich selbst in die Welt hinaus. Auf einmal wird man wieder weiblich, man sieht in den Spiegel und entdeckt an sich selbst die weiblichen Rundungen, die man vergessen hatte. Man entdeckt das Lachen. Weil man sich selbst vergessen hatte, jahrelang. Man entdeckt den offenen Blick. Keine E-Mails heute lesen, keinen Laptop einschalten, keine Versprechen und keine falschen Hoffnungen. Vor allem aber kein Warten. Denn man fängt erst mit dem Leben an und will davon gar nichts mehr wissen. Sagt mir nichts von Dopamin und Endorphinen, lasst mich einfach leben!

Bright Eyes "First Day of My Life"
(Lyrics)



"Remember the time you drove all night
Just to meet me in the morning
And I thought it was strange you said everything changed
You felt as if you'd just woke up
And you said “this is the first day of my life
I’m glad I didn’t die before I met you
But now I don’t care I could go anywhere with you
And I’d probably be happy”"
(...)

Man nimmt zwei Gedichte mit, ansonsten nichts mehr. Sie zwei sprechen miteinander, die Gedichte. Ein Duett.
Willkommen im Oktober, willkommen im Leben, Anna!
Paul Celan (1920, Czernowitz - 1970, Paris)

"Corona" (der Stimme des Autors beim Rezitieren zuhören)
Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.
Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.
Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.
Quelle




Ingeborg Bachmann (1926, Klagenfurt -1973, Rom)

"Die gestundete Zeit" (der Stimme der Dichterin zuhören)
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.
Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.
Quelle

  1. Interview mit dem Spiegel
  2. Ekstase der Unmöglichkeit
  3. Nous deux encore: Wo dein Puls den Gegentakt wagte
  4. Schreib ihr ein Meer und nenne es mit zärtlichem Namen

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