27. Oktober 2011

Weiße Nächte

Der Regen in München war keiner und ich widmete mich den "Weißen Nächten" von Dostojewski direkt unter der Kuppel - derjenigen aus der Wärme des Oktobers, als ob es die letzte wäre... die allerlertzte Wärme.

Dabei fand ich in diesem kleinen Dostojewski-Buch ein überwältigendes Zitat, mit dem ich lebe. Ein einsamer Spaziergänger wandte sich an eine junge verzweifelte Frau, die er nur flüchtig kurz davor gesehen und gerettet hatte:

"...Aber ich werde Sie zum Lachen bringen, wenn ich Ihnen erzähle, daß ich mehrmals daran gedacht habe, so ganz ohne weiteres irgendeine vornehme Dame auf der Straße anzureden, selbstverständlich nur, wenn sie allein war, und natürlich in bescheidener, respektvoller, leidenschaftlicher Art. Ich wollte ihr sagen, daß ich  in meiner Vereinsamung zugrunde ginge; sie möchte mich nicht von sich weisen; ich hätte keine Möglichkeit, auch nur irgendein weibliches Wesen kennenzulernen. Ich wollte es ihr zu Gemüte führen, daß es sogar zu den Pflichten einer Frau gehöre, die schüchterne Bitte eines so unglücklichen Menschen wie ich nicht zurückzuweisen. Und ich wollte ihr schließlich zu verstehen geben, alles, um was ich bäte, bestände nur darin, sie möchte mir ein paar freundliche, teilnehmende Worte sagen, mich nicht gleich von vornherein wegweisen, meiner Versicherung Glauben schenken, anhören, was ich zu sagen beabsichtigte, mich auslachen, wenn sie Lust dazu hätte, mich trösten und ermutigen, ein paar Worte zu mir sprechen; dann wollte ich meinetwegen später auch nie wieder mit ihr zusammentreffen!... Aber Sie lachen... Übrigens rede ich ja auch eben zu diesem Zwecke..."

Heute Nacht wird eine weiße Nacht und ich werde es zu Ende lesen.

Noch erinnerte ich mich da, unter dem letzten Schimmer stehend, an den schönsten, unglaublich schmerzhaften Brief, den Lessing an Eschenburg schrieb, als die Frau Lessings 1778 bei der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes kurz nach dem Kind auch verstarb: "Meine Frau ist tot: und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, dass mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen; und bin ganz leicht."

Wie tief  man den Schmerz in die schöne Sprache umwickeln kann... Und wenn man nicht mehr leben wird, bleiben Worte.

Ein Bild aus dem Herbst, aus Russland

Isaac Levitan. Autumn Day. Sokolniki. 1879. Oil on canvas. The Tretyakov Gallery, Moscow, Russia.

Marusya Mityayeva singt Anna Achmatovas Gedichte "I am your voice" (Bilder von Valentin Serov)


Das erste Gedicht aus dem Lied (aus dem Russischen):

Anna Achmatova 


I — am your voice, the warmth of your breath,
I — am the reflection of your face,

The futile trembling of futile wings,

I am with you to the end, in any case.

 
That’s why you so fervently love
Me in my weakness and in my sin;

That’s why you impulsively gave

Me the best of your sons;

That’s why you never even asked

Me for any word of him

And blackened my forever-deserted home
With fumes of praise.
And they say — it’s impossible to fuse more closely,

Impossible to love more abandonedly. . .

 
As the shadow from the body wants to part,
As the flesh from the soul wants to separate,

So I want now — to be forgotten.

September 1922

– translated by Judith Hemschemeyer
Originally published (in Russian) in the book Anno Domini MCMXXI, 1922.




Das letzte Gedicht in Übersetzung:

* * *

Vergessen? – Wie ich sie erstaunte.
Sie vergaßen mich schon hundert Mal,
Im Grab ich schon hundert Mal faulte
Und bin dort wohl wieder einmal.
Die Muse ward blind und ertaubte,
Erstarb in der Erde als Korn
Und wurde als Phönix vom Staube
Im Ätherblau wiedergeborn.


21. Februar 1957
Leningrad

24. Oktober 2011

Fieber

Sie hat es, sie hat es wieder. Wenn man etwas Frische nimmt, bekommt man Fieber geschenkt. Sich dem Bett widmen, das Kissen glühend einatmen, schlafen, nicht klagen, sich den Visionen der Hitze schenken.

Ein Gedicht, das bereits vor einem Jahr entstand, passt g'rade...

Fieber
 
Ich gebe einen Löffel Salz
Anstatt des Süßstoffs zu dem Kaffee.
Mein coffeiner Gott, weck mich aus dieser Trance,
Weis gleich den Weg aus dem urtristen Wahnsinn.

Der Morgen beißt die Wangen violett.
Er färbt den Tod,
Er bleicht die Felder leise.
Wenn jener Zug mich traurig wegfährt
Oder umbringt, umwirbt, umsorget, streichelt,
Zerfalle ich zum Staub meiner Selbst,
Wie ein benutztes, bleiches Stückchen Kreide.

04. November 2010


und etwas Neues...


April

Als ich die Traurigkeit jagte,
Biss sie sich fest in meinen Hals.
Sie kostete von teuren Säften
Und nahm dem Leben letzten Halt.

Als mich die Traurigkeit jagte,
An einem Samstag im April.
Da lag ich irgendwo im Schatten -
Der Körper blutlos, leer und wirr.

23. Oktober 2011

2. Oktober 2011

Tag *2

Mein Tag mit Wein, Brecht und Prokofiev (es bleiben 2,5 Tage, Eile geboten).

Bereits in der Frühe in das Feld gegangen, kein Mensch, kein Einziger ist da, die Lippen nicht aufmachen, keinen Ton von sich geben. Damit keiner etwas merkt. Keiner in der Wüste. Also darfst du schreien. Du sollst es aus dir ausschreien, aber du kannst es nicht. Man hat dir die Stimme genommen.


Wie schön die Sonne ist, wenn sie aufgeht. Sie aufzufangen, in ein Glas zu setzen und mitzunehmen, um von ihrer Wärme etwas stehlen zu können. Sie braucht man, die Wärme, ohne sie stirbt man. Doch tut sie das nicht, die Sonne, sie wärmt nicht. Ich kann nicht viel trinken, wie widerlich es ist. Bitter schmeckt es, bis zum Erbrechen. Aber es ist ein Muss, daher zwinge ich mich, denn ich habe es meinem Verstand versprochen. Damit man heute anstatt Glas Tränen Gläser Wein zu sich nimmt und den Schmerz abschaltet. Schmerzfreiheit für die restlichen Tage.

Wo werde ich in einem Jahr wohnen und ob immer noch Redakteurin sein - die Frage stellt sich nicht mehr. Was werde ich in diesem Jahr für wunderbare Plätze besuchen, was erleben, wo mich wie eine Neugeborene fühlen, umarmt werden. Die Frage wurde bereits beantwortet. Ich bin müde von Einsamkeit und Gleichgültigkeit, von Demütigung. Meine Neugierde, die mich immer trug, hat man erdrückt, den Mund zugeklebt. So viel kann man nicht mehr ertragen. Schwer sind die Steine, die man leidenschaftlich in jenes Organ aufgeladen und an den Fels angekettet hatte, mit Worten. So ließ man es zum Verdursten da und schaute zu, wann es endlich aufhören würde zu schlagen, zu lieben. Und das dumme Herz zuckt. Verwaschen sind die Fetzen des Kleides, verdreckt sind die Haare durch Demut. Aber der Sturm wird es reinwaschen, der Wein, zumindest für den heutigen Tag.

Wie schön es wäre, wenn ich wieder schreiben könnte, wie Charlotte von Stein an Goethe im Jahre 1776, aber wen würde es berühren:
'Die Welt ist mir wieder lieb, ich hatte mich los von ihr gemacht, wieder lieb durch Sie. Mein Herz macht mir Vorwürfe; ich fühle daß ich mir und Ihnen Qualen zubereite. Vor einem halben Jahre noch war ich so bereit zu sterben, und ich bin's nicht mehr'

Prokofiev gibt mir gerade einen schönen Takt zum Herzschlagen.

"Tanz der Ritter" aus dem Ballettstück "Romeo und Julia"

 Und Brecht zum Atmen

Bertolt Brecht

Vier Liebeslieder

I.
Als ich nachher von dir ging
An dem großen Heute
Sah ich, als ich sehn anfing
Lauter lustige Leute.

Und seit jener Abendstund
Weißt schon, die ich meine
Hab ich einen schönern Mund
Und geschicktere Beine.

Grüner ist, seit ich so fühl
Baum und Strauch und Wiese
Und das Wasser schöner kühl
Wenn ich's auf mich gieße. 


II.
Wenn du mich lustig machst
Dann denk ich manchmal:
Jetzt könnt ich sterben
Dann war ich glücklich
Bis an mein End.
Wenn du dann alt bist
Und du an mich denkst
Seh ich wie heut aus
Und hast ein Liebchen
Das ist noch jung.


III.
Sieben Rosen hat der Strauch
Sechs gehör'n dem Wind
Aber eine bleibt, daß auch
Ich noch eine find.
Sieben Male ruf ich dich
Sechsmal bleibe fort
Doch beim siebten Mal, versprich
Komme auf ein Wort.


IV.
Die Liebste gab mir einen Zweig
Mit gelbem Laub daran.
Das Jahr, es geht zu Ende
Die Liebe fängt erst an.