31. Dezember 2015

Endymion

Heinrich Heine  "In der Frühe"

Auf dem Fauxbourg Saint-Marçeau
Lag der Nebel heute Morgen,
Spätherbstnebel, dicht und schwer,
Einer weißen Nacht vergleichbar.

Wandelnd durch die weiße Nacht,
Schaut’ ich mir vorübergleiten
Eine weibliche Gestalt,
Die dem Mondenlicht vergleichbar.

Ja, sie war wie Mondenlicht
Leichthinschwebend, zart und zierlich;
Solchen schlanken Gliederbau
Sah ich hier in Frankreich niemals.

War es Luna selbst vielleicht,
Die sich heut bey einem schönen,
Zärtlichen Endymion
Des Quartièr Latin verspätet?

Auf dem Heimweg dacht ich nach:
Warum floh’ sie meinen Anblick?
Hielt die Göttin mich vielleicht
Für den Sonnenlenker Phöbus?

[Aus "Neue Gedichte", 1. Auflage 1844, S. 180-181, Quelle]

Jérôme-Martin Langlois "Diana and Endymion" (etwa 1822),  
aus: Web Gallery of Art, via Wikimedia Commons

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