5. Dezember 2008

Schlaflied für eine Motte

Für FhP

* * *
Beschere mich mit Schlaf und nicht mit Worten,
Decke das Bett nicht nur für dich allein.
Wieso bin ich des Glückes einsame Geliebte
Und deine Worte bleiben trotzdem sanft.

Sie bleiben leise auf der Haut liegen,
Die du in deiner Einsamkeit berührst.
Was ist die Seele? Deine Seele?
Ein Abdruck meiner Sehnsucht und Wärme?
Uns trennt nur Meer, wie nah du bist...

Doch schwimmen kann ich gar nicht gegen Strömung.
Du bleibst an deinem Ufer und ich hier.
Wir spüren Einsamkeit der Herzen beieinander,
Empfinden Schmerz und stehen ängstlich still.



* * *
Dir schreibe wieder ich Gedichte.
Wie sonst kann Herz mein zu dem deinen flieg'n.
Die Worte, meine - deine, sind verflochten.
Und stoßen Anderen zum Flieh'n.



* * *
Ich habe Angst, vor dir, vor deiner Nähe.
Du auch dieselbige vor mir.
Ich habe Angst, dir nicht mehr zu entkommen,
Wenn Silben deinen ausgeliefert bin.



* * *
So regungslos und unbeweglich
Wache ich auf und spüre dich.
Dein großer Schmerz, er liegt auf mir
Und dringt zu meinen Ohren.
Auch wenn du ihn gar nicht aussprichst.

Dein leises Schluchzen auf der Schulter,
Wenn du mich festzuhalten suchst.
Mit deinem Stoß aus Gierde großer Qualen
Gehöre dir, gehöre fraglos uns.



* * *
Ich möchte eine Motte sein und eine Fliege,
Die sich an deinen Augen verbrennt,
Die atemlos in Armen deinen Ruhe findet.
Den letzten Halt, bis du vergehst.

Verzeih mir meine stillen Qualen,
Die ich dir nicht zu öffnen mag.
Dein Nicht-Adieu ist stärker,
Als leb wohl morgens zu flüstern.
Ich stürze wieder, werde schwach.



* * *
Von deiner Schwäche bis zu meiner
Die Brücke wurde aufgebaut.
Sie ist, sie hängt und bleibt bestehen,
Auch wenn du Schritt zu mir nicht wagst.

Auch wenn ich Schritt zu dir nicht wage,
So bist du drin, du bist in mir.
Wir beide bitten Herzen um Vergebung,
Dass sie an uns zerschmettert sind.

03.12.2008 (Nacht)
[Bild: Aus dem Film von Claude Lelouch "Un homme et une femme " ("Ein Mann und eine Frau", 1966, Frankreich; Anouk Aimée, Jean-Louis Trintignant)]

3. Dezember 2008

Adele "Make You Feel My Love"

"I'd go hungry, I'd go black and blue
I'd go crawling down the avenue
There's nothing that I wouldn't do
To make you feel my love"
Lyrik


[Bob Dylan - Cover]

Joseph Brodsky

Vor vielen Monaten sah und hörte ich mir dieses Video auf Russisch an. Dies hatte eine überwältigende Wirkung damals auf mich. Der russisch-jüdische Dichter und Essayist Joseph Brodsky sprach über bereits alternde Anna Achmatova, die er als junger Mann kennen lernen durfte, und über ihre Wirkung auf ihn. Er erzählte darüber, dass sie sich selbst in ihm wohl erkannt hatte... Ich fühlte mich danach sprachlos und dachte über Meines nach... Auch führte er aus, dass nicht die Sprache das Werkzeug der Dichter sei, sondern die Letzten das Werkzeug der ewigen Sprache sein würden. Auf einmal fühlte ich die Richtigkeit seiner Worte.
Bild: Valentina Polukhina "Thirteen Ways of Looking at Joseph Brodsky"


Joseph Brodsky (1940, Leningrad - 1996, New York)

Wie gern würd ich in dieser schwarzen Stunde
mit einer Straßenbahn zum Stadtrand fahren
und in dein Haus eintreten,
wenn dann in Hunderten von Jahren
Ausgräber unser Viertel offenlegen,
möchte ich gern, dass sie mich wiederfinden
als Teil von dir für immer, fest umarmt
verschüttet von der neuen Asche.
(1962)


Ein Raubtier der Poesie
Joseph Brodskys Gedichte zeigen: Den Ruhm verdankt er dem Werk, nicht seiner Bilderbuchbiografie
" (…) Brodsky gehört der ersten Generation an, die aus der tiefen sowjetischen kulturellen Lethargie der fünfziger Jahre erwachte und aufstand. Bekannt ist, dass, bevor Anna Achmatova den jungen Wilden den Sesam in die russische Moderne öffnete, Brodsky und seine Freunde kaum eine Vorstellung davon hatten, was hinter dieser Tür verborgen und aufbewahrt war. Wissbegier und die Fähigkeit, aus allem zu lernen, halfen Brodsky, der nach der siebten Klasse die sowjetische Schule mit schlechten Noten verlassen musste, sich in kürzester Zeit tragfähige Brücken zu den so eröffneten Welten zu bauen. Mit ungeheurer Intensität gewann er den Baustoff für diese Brücken, wo er nur konnte. So stieß er (wie er sagte: »wie alle«) auf den Namen John Donne im Motto zu Hemingways damals modischem Wem die Stunde schlägt. Verblüfft begab er sich auf die Suche nach Spuren des Urhebers (was bei weitem nicht »alle« taten), bis er dessen Predigten und Gedichte fand, las, übersetzte und zum Stoff für eigene Dichtung machte.(...)" weiter lesen

Der Misanthrop
Hundert Gedichte – Joseph Brodsky bleibt in seinem Zimmer
"(...) Poesie sollte das Leben nicht erklären, Poesie war für Brodsky das Leben selbst. Diese Auffassung durchzieht Brodskys gesamtes lyrisches Werk und steht prominent im Titel eines Gedichtbandes aus dem Jahr 1977: «Redeteil». Brodsky verneint die künstlerische Autonomie des Dichters und dreht die Abhängigkeitsverhältnisse um. Es ist die Sprache, die sich des Dichters als eines Instruments bedient, um ihre eigenen Aussagemöglichkeiten zu erproben: «Vom Ganzen des Menschen bleibt – als Teil – / bloss Sprache übrig. Er als Sprachanteil. Als Redeteil.» (...)"weiter lesen

"Altra ego" nannte Brodsky seine Abhandlung zum Thema "Liebesgedicht", denn er vertritt darin die Auffassung, der Dichter besinge ein Mädchen nur deshalb, weil er in ihrem Antlitz sich selbst erkenne. Das Liebesgedicht sei deshalb eher ein Porträt der eigenen Seele, eine Selbsterkundung: Es ist, schreibt Joseph Brodsky, "schlicht und einfach, eine Seele in Bewegung. Ist es gut, kann es auch die Ihre in Bewegung versetzen." (...)

Auch findet er, Publikum und Biografen sollten endlich die Finger von der vielstrapazierten "Muse" lassen - die mitnichten identisch mit der oder den konkreten Geliebten eines Dichters, sondern vielmehr die ehrfurchtgebietende ewige Stimme der Sprache selbst sei. Vielleicht war Joseph Brodsky einer der letzten Dichter, die sich als Seher, als Auserwählte verstanden, von der Muse exklusiv zum Diktat gerufen.(...)" weiter lesen



ICH HÖRE NICHT DAS was du mir sagst nur deine Stimme. 
Ich sehe nicht dein Kleid nur blanken Schnee ringsum.
Das ist der Nordpol wo wir sitzen, ist nicht das Zimmer;
unsere Spuren führen von ihm her - und nicht zum.

Einst kannte ich auswendig alle Farben des Spektrums.
Jetzt erkenn ich zur Bestürzung des Arztes einzig Weiß.
Doch selbst wenn das Liedchen verklingt ganz zuletzt nun
bleibt von ihm ein Motiv, zumindest eins.

Ich wär froh mich neben dich zu legen, doch das ist Luxus.
Leg ich mich hin, dann Gesicht zum Rasen, einerlei.
Und die Alte im Hüttchen auf Hühnerbeinen wird schluchzen
und kocht sich was Weiches, ein Ei.

Früher wenns Flecken gab streute ich Laugensalz.
Das half immer, auch Talkum auf Pickel wirkte zuletzt.
Jetzt wogt um dich der Abschaum und grölt lauthals.
Du trägst lichte Kleider. Und ich Schmerz.

1989(?)
(Aus dem Russischen von Ralph Dutli)

  1. Buch: Brief in die Oase: Hundert Gedichte von Joseph Brodsky (amazon)
  2. Buch: Joseph Brodsky "Liebesgedichte und andere Zuneigungen"
  3. Weitere Texte und Informationen beim Autor und Übersetzer Ralph Dutli
  4. Poetry of Yoseph Brodsky

Gebet

Give everyone even a little…
And don’t be forgetful of me.

Bulat Okudzhava (1924, Moskau - 1997, Paris) war ein berühmter oppositioneller russischer Dichter und Liedermacher. Mit seinen Liedern sind viele in der ehemaligen Sowjetunion aufgewachsen. Erst als ich selbst erwachsener wurde, wurde mir die Tiefe seiner Worte bewusst...

"
Okudschawa schrieb unpathetische, an den Volksliedton angelehnte Gedichte, die er zur Gitarre vortrug. In ihnen prangerte er die Sinnlosigkeit des Krieges an und pries die individuelle Freiheit, die Liebe sowie das Moskauer Viertel am alten Arbat. Okudschawa wurde durch seine anspielungsreiche Sprache und den Mut, im Westen zu veröffentlichen, zu einer Kultfigur der intellektuellen Opposition. Ironie, Satire und Melancholie verbindend, verstand er es als Verfasser historischer Romane wie »Bednyj Avrosimov« (1969; dt.»Der arme Awrosimow«) und »Svidanie s Bonapartom« (1985; dt. »Begegnung mit Bonaparte«), die Sowjetideologie zu unterlaufen."
Quelle

Bulat Okudzhava "THE PRAYER OF FRANÇOIS VILLON"

[Übersetzung auf Englisch]

THE PRAYER OF FRANÇOIS VILLON (1963)

While Earth is still turning around,
While light is still warming and bright,
I pray you, my Lord, give just everyone,
What everyone hasn’t on his side: 
 
A head – give him who’s always clever,
A horse – give a coward – to flee,
Give money him, who’s now happy…
And don’t be forgetful of me.

While Earth is still turning around,
My Lord, it’s for you to decide! –
Let him, who is craving for power,
Enjoy it until his is glut. 
 
Give breather a man, open-handed,
At least, his day’s evening to see.
Let Cain have his utter repentance…
And don’t be forgetful of me.

I know that you are almighty,
Believe to that wisdom of yours,
As soldiers believe – those killed ones –
That they live the Eden indoors, 
 
As always believes every ear
Your quiet admonishes to,
As all we believe to our actions,
Not knowing ev’n what we do.

Oh, God! Oh, my Master, almighty!
Oh, You of the evergreen eyes!
While Earth is still turning around –
That’s strange and to her and to us, – 
 
While she has enough of the fire
And time for us farther to be,
Give everyone even a little…
And don’t be forgetful of me.

"Du mein liebes Stück Heimat"

Liebesbriefe aus dem Exil... Ich bin sehr neugierig auf dieses Buch und glaube, auch dasjenige Stück Heimat gefunden zu haben, als ich an jemanden Besonderen schrieb. Denjenigen Teil, den ich in seinem Herzen wiederfand. Die verlorene Heimat einer wurzellosen Poetin wurde somit wiedererweckt... In seiner Seele...

Granach, Alexander
"Du mein liebes Stück Heimat"
Briefe an Lotte Lieven aus dem Exil.
Mit e. Vorw. v. Mario Adorf u. e. Nachw. v. Reinhard Müller
Hrsg. v. Angelika Wittlich u. Hilde Recher
[erwerben auf buecher.de]

„Der Schauspieler Alexander Granach schrieb mit seinem autobiographischen Roman »Da geht ein Mensch« einen weltberühmten Klassiker. Voller Menschlichkeit, Weisheit und Humor schildert er dort seinen Weg als jüdischer Bäckerjunge aus einem kleinen galizischen Dorf an die großen Bühnen Berlins. 1933, als Granachs triumphale Theater- und Filmkarriere mit der Machtergreifung jäh endete, emigrierte er. Zunächst nach Polen, dann in die Sowjetunion, wo er Stalins Säuberungen nur durch Intervention Feuchtwangers entkam, dann in die USA. Von allen Stationen des Exils schrieb er an Lotte Lieven, die Schweizer Schauspielerin und Lebensgefährtin. Klug, vital, politisch hellsichtig und genau erzählen diese 300 Briefe von Entwurzelung, vom Kampf um Arbeit und von seinen Begegnungen mit anderen berühmten Emigranten.“ Quelle
FAZ: „(…) An Lotte Lieven sind 279 Briefe erhalten, es sind wohl alle, die Granach in den Zeiten des Exils an sein "geliebtes Lottchen" schrieb. Bis vor kurzem lagen sie in der Berliner Akademie der Künste, wohin sie nach dem Tod der Empfängerin gelangt waren. Herausgegeben von Hilde Recher und Angelika Wittlich, ist nun in einer sorgfältig edierten Ausgabe nachzulesen, wie der "Alltag" eines Emigranten aussah. Außer einem Fragebogen ist kein Wort von Lotte an Alexander erhalten. Welche Bedeutung sie in Granachs Leben gehabt hatte, wussten bis vor kurzem nur ein paar Eingeweihte. Nun kann man sich ein Bild davon verschaffen. Doch wer war Lotte Lieven, diese "Schwyzer Maid", die der "Neger", als welcher Granach seine Briefe an sie stets unterzeichnete, immer wieder beschwörend als sein "liebes Stück Heimat" bezeichnete?
(…)
Obwohl sie, anders als gelegentlich behauptet, nicht verheiratet waren, legte Alexander Granach laut Julius Hay "Wert darauf, dass man die Schweizerin überall als seine legitime Frau erkannte. Er verkündete das in nüchternem Zustand und brüllte es in alle Winde, wenn er besoffen war." Während der Dauer von Lottes Besuchen hatten sich die Frauen, die sich um Granach offenbar wie Motten ums Licht scharten, fernzuhalten. Dazu kam es in der Zeitspanne des vorliegenden Briefwechsels allerdings nur zweimal: Ein erstes Wiedersehen gab es zwischen Anfang Juni und Ende Oktober 1936 in Moskau, wohin Granach sich im Mai 1935 für zunächst unbestimmte Zeit begeben hatte, ein zweites Wiedersehen fand in den ersten Monaten des Jahres 1938 in Zürich statt, wo Granach als Macbeth im Schauspielhaus auftrat, nachdem er Russland hatte verlassen können.(...)“ weiter lesen