Vor vielen Monaten sah und hörte ich mir dieses Video auf Russisch an. Dies hatte eine überwältigende Wirkung damals auf mich. Der russisch-jüdische Dichter und Essayist Joseph Brodsky sprach über bereits alternde Anna Achmatova, die er als junger Mann kennen lernen durfte, und über ihre Wirkung auf ihn. Er erzählte darüber, dass sie sich selbst in ihm wohl erkannt hatte... Ich fühlte mich danach sprachlos und dachte über Meines nach... Auch führte er aus, dass nicht die Sprache das Werkzeug der Dichter sei, sondern die Letzten das Werkzeug der ewigen Sprache sein würden. Auf einmal fühlte ich die Richtigkeit seiner Worte.
Bild: Valentina Polukhina "Thirteen Ways of Looking at Joseph Brodsky"
Ein Raubtier der Poesie
Joseph Brodsky (1940, Leningrad - 1996, New York)
Wie gern würd ich in dieser schwarzen Stunde
mit einer Straßenbahn zum Stadtrand fahren
und in dein Haus eintreten,
wenn dann in Hunderten von Jahren
Ausgräber unser Viertel offenlegen,
möchte ich gern, dass sie mich wiederfinden
als Teil von dir für immer, fest umarmt
verschüttet von der neuen Asche.
mit einer Straßenbahn zum Stadtrand fahren
und in dein Haus eintreten,
wenn dann in Hunderten von Jahren
Ausgräber unser Viertel offenlegen,
möchte ich gern, dass sie mich wiederfinden
als Teil von dir für immer, fest umarmt
verschüttet von der neuen Asche.
(1962)
Ein Raubtier der Poesie
Joseph Brodskys Gedichte zeigen: Den Ruhm verdankt er dem Werk, nicht seiner Bilderbuchbiografie
" (…) Brodsky gehört der ersten Generation an, die aus der tiefen sowjetischen kulturellen Lethargie der fünfziger Jahre erwachte und aufstand. Bekannt ist, dass, bevor Anna Achmatova den jungen Wilden den Sesam in die russische Moderne öffnete, Brodsky und seine Freunde kaum eine Vorstellung davon hatten, was hinter dieser Tür verborgen und aufbewahrt war. Wissbegier und die Fähigkeit, aus allem zu lernen, halfen Brodsky, der nach der siebten Klasse die sowjetische Schule mit schlechten Noten verlassen musste, sich in kürzester Zeit tragfähige Brücken zu den so eröffneten Welten zu bauen. Mit ungeheurer Intensität gewann er den Baustoff für diese Brücken, wo er nur konnte. So stieß er (wie er sagte: »wie alle«) auf den Namen John Donne im Motto zu Hemingways damals modischem Wem die Stunde schlägt. Verblüfft begab er sich auf die Suche nach Spuren des Urhebers (was bei weitem nicht »alle« taten), bis er dessen Predigten und Gedichte fand, las, übersetzte und zum Stoff für eigene Dichtung machte.(...)" weiter lesen
Der Misanthrop
Hundert Gedichte – Joseph Brodsky bleibt in seinem Zimmer
Hundert Gedichte – Joseph Brodsky bleibt in seinem Zimmer
"(...) Poesie sollte das Leben nicht erklären, Poesie war für Brodsky das Leben selbst. Diese Auffassung durchzieht Brodskys gesamtes lyrisches Werk und steht prominent im Titel eines Gedichtbandes aus dem Jahr 1977: «Redeteil». Brodsky verneint die künstlerische Autonomie des Dichters und dreht die Abhängigkeitsverhältnisse um. Es ist die Sprache, die sich des Dichters als eines Instruments bedient, um ihre eigenen Aussagemöglichkeiten zu erproben: «Vom Ganzen des Menschen bleibt – als Teil – / bloss Sprache übrig. Er als Sprachanteil. Als Redeteil.» (...)"weiter lesen
"Altra ego" nannte Brodsky seine Abhandlung zum Thema "Liebesgedicht", denn er vertritt darin die Auffassung, der Dichter besinge ein Mädchen nur deshalb, weil er in ihrem Antlitz sich selbst erkenne. Das Liebesgedicht sei deshalb eher ein Porträt der eigenen Seele, eine Selbsterkundung: Es ist, schreibt Joseph Brodsky, "schlicht und einfach, eine Seele in Bewegung. Ist es gut, kann es auch die Ihre in Bewegung versetzen." (...)
Auch findet er, Publikum und Biografen sollten endlich die Finger von der vielstrapazierten "Muse" lassen - die mitnichten identisch mit der oder den konkreten Geliebten eines Dichters, sondern vielmehr die ehrfurchtgebietende ewige Stimme der Sprache selbst sei. Vielleicht war Joseph Brodsky einer der letzten Dichter, die sich als Seher, als Auserwählte verstanden, von der Muse exklusiv zum Diktat gerufen.(...)" weiter lesen
Auch findet er, Publikum und Biografen sollten endlich die Finger von der vielstrapazierten "Muse" lassen - die mitnichten identisch mit der oder den konkreten Geliebten eines Dichters, sondern vielmehr die ehrfurchtgebietende ewige Stimme der Sprache selbst sei. Vielleicht war Joseph Brodsky einer der letzten Dichter, die sich als Seher, als Auserwählte verstanden, von der Muse exklusiv zum Diktat gerufen.(...)" weiter lesen
Aus dem Band: BRIEF IN DIE OASE: Hundert Gedichte von Joseph Brodsky
ICH HÖRE NICHT DAS was du mir sagst nur deine Stimme.
Ich sehe nicht dein Kleid nur blanken Schnee ringsum.
Das ist der Nordpol wo wir sitzen, ist nicht das Zimmer;
unsere Spuren führen von ihm her - und nicht zum.
Einst kannte ich auswendig alle Farben des Spektrums.
Jetzt erkenn ich zur Bestürzung des Arztes einzig Weiß.
Doch selbst wenn das Liedchen verklingt ganz zuletzt nun
bleibt von ihm ein Motiv, zumindest eins.
Ich wär froh mich neben dich zu legen, doch das ist Luxus.
Leg ich mich hin, dann Gesicht zum Rasen, einerlei.
Und die Alte im Hüttchen auf Hühnerbeinen wird schluchzen
und kocht sich was Weiches, ein Ei.
Früher wenns Flecken gab streute ich Laugensalz.
Das half immer, auch Talkum auf Pickel wirkte zuletzt.
Jetzt wogt um dich der Abschaum und grölt lauthals.
Du trägst lichte Kleider. Und ich Schmerz.
1989(?)
(Aus dem Russischen von Ralph Dutli)
Ich sehe nicht dein Kleid nur blanken Schnee ringsum.
Das ist der Nordpol wo wir sitzen, ist nicht das Zimmer;
unsere Spuren führen von ihm her - und nicht zum.
Einst kannte ich auswendig alle Farben des Spektrums.
Jetzt erkenn ich zur Bestürzung des Arztes einzig Weiß.
Doch selbst wenn das Liedchen verklingt ganz zuletzt nun
bleibt von ihm ein Motiv, zumindest eins.
Ich wär froh mich neben dich zu legen, doch das ist Luxus.
Leg ich mich hin, dann Gesicht zum Rasen, einerlei.
Und die Alte im Hüttchen auf Hühnerbeinen wird schluchzen
und kocht sich was Weiches, ein Ei.
Früher wenns Flecken gab streute ich Laugensalz.
Das half immer, auch Talkum auf Pickel wirkte zuletzt.
Jetzt wogt um dich der Abschaum und grölt lauthals.
Du trägst lichte Kleider. Und ich Schmerz.
1989(?)
(Aus dem Russischen von Ralph Dutli)
4 Kommentare:
Oh! Wir haben gerade einen Brodsky Spezialist an der Uni Fribourg! Er leitet derzeit ein Seminar über den russischen Dichter! :o)
Wie schön! Falls du dich zufällig dahin verirren solltest, dann bin ich sehr gespannt auf deine Eindrücke!
Das wird schwierig: ich bin nicht Slavistik-Studentin, und würde die Gedichte nicht verstehen... Ausserdem ist geht das Semester nächste Woche zu Ende.
toll!
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