5. April 2008

Gleichgewicht

Hilde Domin

Gleichgewicht

Wir gehen
jeder für sich
den schmalen Weg
über den Köpfen der Toten
- fast ohne Angst -
im Takt unsres Herzens,
als seien wir beschützt,
solange die Liebe
nicht aussetzt.

So gehen wir
zwischen Schmetterlingen und Vögeln
in staunendem Gleichgewicht
zu einem Morgen von Baumwipfeln
- grün, gold und blau -
und zu dem Erwachen
der geliebten Augen.


Magere Kost

Ich lege mich hin,
ich esse nicht und ich schlafe nicht,
ich gebe meinen Blumen
kein Wasser.
Es lohnt nicht den Finger zu heben.
Ich erwarte nichts.

Deine Stimme, die mich umarmt hat,
es ist viele Tage her,
ich habe jeden Tag
ein kleines Stück von ihr gegessen,
ich habe viele Tage
von ihr gelebt.
Bescheiden wie die Tiere der Armen
die am Wegrand
die schütteren Halme zupfen
und denen nichts gestreut wird.

So wenig, so viel
wie die Stimme,
die mich in den Arm nimmt,
mußt du mir lassen.
Ich atme nicht
ohne die Stimme.


Zweifel

Lieb ich einen andern
als dich
und den dein Umriß
fast ganz verdeckt?
Einen der deine
Augen hat und deinen
weichen Mund,
der so blaß ist wie du
und so fern und verträumt,
so zärtlich wie eine Vogelfeder,
einen der gibt und nimmt
wie du, als du noch
an Wunder
glaubtest.


Schöner

Schöner sind die Gedichte des Glücks.

Wie die Blüte schöner ist als der Stengel
der sie doch treibt
sind schöner die Gedichte des Glücks.

Wie der Vogel schöner ist als das Ei
wie es schön ist wenn Licht wird
ist schöner das Glück.

Und sind schöner die Gedichte
die ich nicht schreiben werde.


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