19. Dezember 2017

Dezember

* * *
Meine erkältete tiefe Stimme lässt den Dezember fallen
Aus seinem fest gefahrenen Leben, 
Aus seinem zu fest gedrehten Plan.
Er klopft nachts verschwitzt an meine Tür und wartet,
Bis das Mondlicht im Schlafzimmer aufgeht
Und er nach oben sputen darf.
In den Kuss meiner Stimme, in die Tiefe.
In die Wärme, die sich auftut im Bauch.
Nur die erkälteten Flocken tanzen,
Um die sichtbaren Spuren zu verwischen,
Von dem unten abgestellten unsichtbaren Rad.


19. Dezember 2017

1. Oktober 2017

Vatertochter

Es ist nur vier Wochen her, seitdem die mir wohl wichtigste und mein Leben immens beeinflussende und kreierende Person, nein, ein Mensch, der Mensch, mein Mensch, der Lehrer, auch mein Lehrer, mein Vater nicht mehr da ist. Sein Herz schlägt nicht mehr. Ja, ich bin definitiv eine Vatertochter, seine Vatertocher gewesen. Genauso stur und zielstrebig wie er. Genauso verletzlich wie er, obwohl er ein sehr, sehr starker Mann war, mit der eisernen Willenskraft, Schönheit und unglaublichen Intelligenz, die mir bei den hin und wieder im Leben begegnenden Menschen selten so ersichtlich waren. Vielleicht, weil er gerade sehr viel älter als ich war. Er hat meine Ansprüche an die Umgebung und mein Gegenüber von Kindheit an sehr hoch geprägt, was natürlich nicht immer förderlich war; aber es war richtig von ihm, mich so zu erziehen, dass ich sehr viel von den Hirnen und Herzen der Anderen erwarten sollte. Er war viel zu ehrlich, was er auch mir eingeflößt hatte. 

Vater, 22 Jahre alt, 1943
 Er ist nicht da, nicht da, und diese vier Wochen kommen mir wie vier lange Torturjahrhunderte vor. Ich sehe ihn da im Krankenhaus, das ihn sterben ließ. Den Trost spendeten mir paar eigentlich fremde Menschen in ihren paar Worten in ihren Nachrichten, als ich noch die letzten Tage um sein Leben kämpfte und hoffte. Aber eigentlich gibt es keinen Trost. Ich werde nie die sarkastischen Phrasen der Ärzte im Krankenhaus vergessen, die ihn einfach sterben ließen, und ich sie anflehte, das Beste für meinen Vater zu tun, da er noch leben wollte. So unwürdig für ihn, sie haben ihn so sehr dort leiden lassen und erlaubten uns nicht, bei ihm nachts zu sein.
Er ist 96 Jahre, 8 Monate und sieben Tage geworden. Er, der Verstand und Mut hatte, mit seinen 20 Jahren nach Ausbruch des Krieges schwer verletzt, sich in der Ukraine für einen Volksdeutschen auszugeben und in der Kriegsgefangenschaft den ganzen Krieg in Deutschland zu überleben. Als Jude. Er, der später im Kampf der Sowjetunion gegen den Kosmopolitismus den Gulag hinter dem Polarkreis hinter sich bringen durfte. Er, den seine erste Ehe und vor allem Kinder aufgrund seines Judentums zerstörten. Der gewöhnliche Antisemitismus, der ganz gewöhnliche in der Sowjetunion. Er, der aus denselben Gründen nie ein Jurist in der Sowjetunion werden durfte und nur ein Dorflehrer in einem winzigen ukrainischen Dorf ihm zuteilwurde. Er, der Dorflehrer, dessen Schüler die ersten Plätze bei den Republikanischen Schulolympiaden belegten und viele von denen selbst Lehrer wurden. Deutschlehrer natürlich. Dann kam meine Mutter, später ich, und meine Eltern duften 40 Jahre zusammen sein. Nein, mein Verhältnis zum Vater war nicht leicht, eher schwierig, uns trennten zu viele Jahrzehnte und Ereignisse, aber gerade das auch prägte mich, mein Verhältnis zu der Geschichte, die ich nicht bloß aus den Geschichtsbüchern erfahren durfte, und meine große Liebe zu ihm, auch mein Verhältnis zu dem anderen Geschlecht, mein Verhältnis zu der Liebe und als Ergebnis meine zu sehr ausgeprägte Sensibilität. Als ich noch Schülerin war, hörte ich oft, wie er erzählte, wie sehr er Remarque mochte. Seinen Roman "Drei Kameraden" nahm er immer wieder mit seinen Schülern und Studenten durch. Die Zeit der Weimarer Republik, die Zeit der Zerbrochenen nach dem 1. und vor dem 2. Weltkrieg hatte Remarque dort brillant dargestellt. Es war auch meine Zeit seit dann. Die Frau, die der Held der Romans liebte, hieß Patricia oder kurz Pat. Als ich den Roman selbst mehrfach las, zuerst auf Russisch, dann auf Deutsch, verliebte ich mich in diese Figur, so dass alle meine ersten Nicks im Internet Patricia hießen. Es mussten viele Jahre vergehen, bis ich tatsächlich einem Pat begegnet bin, den ich meinem Vater endlich vorstellen konnte. Meinen Pat, den der Vater sehr in sein Herz geschlossen hatte, obwohl sie 66 Jahre trennten. Und so hat der Vater, ohne es zu wissen und leider nicht mehr hier atmend, mein Leben bestimmt.

Eine meiner Lieblingsphrasen:
„… ich liebte sie, und wenn ich ihr sagte: Komm, so kam sie, nichts stand zwischen uns, wir konnten uns so nahe sein, wie es Menschen nur können – aber dennoch war alles manchmal auf eine rätselhafte Weise verschattet und qualvoll, ich konnte sie nicht lösen aus dem Ring der Dinge, nicht herausreißen aus dem Kreise des Daseins, der über uns und in uns war und uns seine Gesetze aufzwang, den Atem und das Vergehen, den fragwürdigen Glanz der immerfort ins nichts abstürzenden Gegenwart, die schimmernde Illusion des Gefühls, dass im Besitzen schon wieder Verlieren war…"
Erich Maria Remarque, "Drei Kameraden"

25. April 2017

Wir emigrieren in die Lippen voneinander

Jewgeni Jewtuschenko

"Wir emigrieren in die Lippen voneinander 
Aus diesem unglücklichen Land. 
... 
Unsere Lippen - wunderschöne Länder, 
In ihnen sind wir frei."

(Übersetzt von Ann)

Chromatics "Lady"
  
Евгений Евтушенко
Любовь по-португальски

Ночь, как раны, огни зализала.
Смотрят звезды глазками тюрьмы,
ну а мы под мостом Салазара —
в его черной-пречерной тени.

Оказал нам диктатор услугу,
и, ему под мостом не видны,
эмигрируем в губы друг к другу
мы из этой несчастной страны.

Под мостом из бетона и страха,
под мостом этой власти тупой
наши губы — прекрасные страны,
где мы оба свободны с тобой.

Я ворую свободу, ворую,
и в святой уворованный миг
счастлив я, что хотя б в поцелуе
бесцензурен мой грешный язык.

Даже в мире, где правят фашисты,
где права у людей так малы,
остаются ресницы пушисты,
а под ними иные миры.

Но, одетая в тоненький плащик,
мне дарящая с пальца кольцо,
португалочка, что же ты плачешь?
Я не плачу. Я выплакал все.

Дай мне губы. Прижмись и не думай.
Мы с тобою, сестренка, слабы
под мостом, как под бровью угрюмой
две невидимых миру слезы...

(1967, Лиссабон)

Welten hören auf

Jewgeni Jewtuschenko
Uninteressante Menschen gibt es nicht
Uninteressante Menschen gibt es nicht.
Jeder hat seine Geschichte, sein Gesicht,
das nur ihm gehört. Ein jeder ein Planet:
So reich, und keiner, der ihm gleicht. Versteht:


Auch wenn einer unauffällig lebt,
der nichts als Unauffälligkeit erstrebt,
ist er unter allen andern dann
durch seine Unauffälligkeit interessant.


Jeder hat seine geheime Welt,
von einem schönsten Augenblick erhellt,
von einem schrecklichsten Tag versehrt:
und allen andern ist sie ganz verwehrt.


Und wenn ein Mensch stirbt, stirbt mit ihm
sein erster Schnee aus jener grauen Früh,
sein erster Kuss nachts und sein erster Zorn:
und all das nimmt er mit sich fort.


Bücher bleiben uns und Brücken, Kram
und Maschinen, Leinwände, gut gerahmt
Geschmeide und Gelumpe – vieles bleibt:
und alles andre zerfällt mit seinem Leib.


Das ist das Gesetz dieses rohen Laufs,
nicht Menschen sterben: Welten hören auf.
Wir weinen ihnen eine Träne nach
und erkannten sie nicht am hellen Tag.


Was wissen wir vom Bruder und vom Freund,
von ihr, die nah uns ist und ferne träumt!
Vom eignen Vater, Gesicht gegen Gesicht,
wissen wir, alles wissend, nichts.


Die Menschen gehen fort… Dann sind sie fort.
Ihre Welten sind ein toter leerer Ort.
Und jedesmal, und denk ich dein,
möchte ich über dieses Ende schrein.


(Auf Deutsch übersetzt von Volker Braun)

President Nixon meets with Russian poet Yevgeny Yevtushenko

von Oliver F. Atkins, 1916-1977, Photographer (NARA record: 8451334) (U.S. National Archives and Records Administration) [Public domain], via Wikimedia Commons

Евгений Евтушенко

Не исчезай

Не исчезай... Исчезнув из меня,
развоплотясь, ты из себя исчезнешь,
себе самой навеки изменя,
и это будет низшая нечестность.

Не исчезай... Исчезнуть — так легко.
Воскреснуть друг для друга невозможно.
Смерть втягивает слишком глубоко.
Стать мертвым хоть на миг — неосторожно.

Не исчезай... Забудь про третью тень.
В любви есть только двое. Третьих нету.
Чисты мы будем оба в Судный день,
когда нас трубы призовут к ответу.

Не исчезай... Мы искупили грех.
Мы оба неподсудны, невозбранны.
Достойны мы с тобой прощенья тех,
кому невольно причинили раны.

Не исчезай. Исчезнуть можно вмиг,
но как нам после встретиться в столетьях?
Возможен ли на свете твой двойник
и мой двойник? Лишь только в наших детях.

Не исчезай. Дай мне свою ладонь.
На ней написан я — я в это верю.
Тем и страшна последняя любовь,
что это не любовь, а страх потери.

(1977)


Я люблю тебя больше природы...

Я люблю тебя больше природы,
Ибо ты как природа сама,
Я люблю тебя больше свободы,
Без тебя и свобода тюрьма!

Я люблю тебя неосторожно,
Словно пропасть, а не колею!
Я люблю тебя больше, чем можно!
Больше, чем невозможно люблю!

Я люблю безрассудно, бессрочно.
Даже пьянствуя, даже грубя.
И уж больше себя - это точно.
Даже больше чем просто себя.

Я люблю тебя больше Шекспира,
Больше всей на земле красоты!
Даже больше всей музыки мира,
Ибо книга и музыка - ты.

Я люблю тебя больше славы,
Даже в будущие времена!
Чем заржавленную державу,
Ибо Родина - ты, не она!

Ты несчатна? Ты просишь участья?
Бога просьбами ты не гневи!
Я люблю тебя больше счастья!
Я люблю тебя больше любви!

(1995)




Не понимать друг друга страшно...

Не понимать друг друга страшно -
не понимать и обнимать,
и все же, как это ни странно,
но так же страшно, так же страшно
во всем друг друга понимать.

Тем и другим себя мы раним.
И, наделен познаньем ранним,
я душу нежную твою
не оскорблю непониманьем
и пониманьем не убью.

(1956)
 
 

11. Februar 2017

Non-Anständig °7

In der Wiederholung des Lebens findet das wortlose Abspielen einer alten, schreienden Schallplatte statt. Der Schmerz kratzt in mir alles aus, auch wenn die Nadel fehlt.

* * *
Mit meinem Glück hab' nie geschlafen,
Der wirre Schmerz hat hart gefickt.
Ich will die Sprache wieder finden,
In welcher mich geborgen fühle,
Ohne ein Wort, ein Wort an dich.

11. Februar 2017


"You can't save me"

Die Leben des Vaters

Diese Jugendlichen in Kapuzenpullis haben ziemliche Tränen bei mir hervorgerufen. Im Abgeordnetenhaus in Berlin. Als sie den Schmerz meines 20-jährigen Vaters mit ihrer Hingabe spielten.

5. Februar 2017

Mad


What remains

Kurt Tucholsky "AUS!"
Einmal müssen zwei auseinandergehn;
einmal will einer den andern nicht mehr verstehn—
einmal gabelt sich jeder Weg – und jeder geht allein –
wer ist daran schuld?
Es gibt keine Schuld. Es gibt nur den Ablauf der Zeit.
Solche Straßen schneiden sich in der Unendlichkeit.
Jeder trägt den andern mit sich herum –
etwas bleibt immer zurück.
Einmal hat es euch zusammengespült,
ihr habt euch erhitzt, seid zusammengeschmolzen, und dann erkühlt –
Ihr wart euer Kind. Jede Hälfte sinkt nun herab -:
ein neuer Mensch.
Jeder geht seinem Schicksal zu.
Leben ist Wandlung. Jedes Ich sucht ein Du.
Jeder sucht seine Zukunft. Und geht mit stockendem Fuß,
vorwärtsgerissen vom Willen, ohne Erklärung und Gruß
in ein fernes Land. 

Hundreds "What Remains" (Penwood Heavy Handed Remix)


16. Januar 2017

Junges Weib, von Gott verlassen

Da bist du, von Feuer zu Feuer springst mit den nackten Füssen über den wilden Flammen, du - das neue Jahr, das in Paris begonnen hatte und das Alte hinter dir ließest. Angezündet hast du es in mir und es taumelt langsam das Neue, das Schöne, das bis zur Schmezensgrenze Sanfte und nach Geborgenheit stark Verlangende. Das Jahr ist noch ein Kind, wie ein kleiner Marienkäfer, der in meiner Provinzstadt-Wohnung, fern von Paris, den Winter gerade überwartet und meine Hand als seine Landefläche entdeckt; es kitzelt, wenn er über meine  schreibende Hand kriecht. Es ist da, an meiner Hand, spürst du es?

Die Freiheit mit dir spüren, sie ausrufen können, wie ein Wolf zu dem Himmel, wie ein nie bis jetzt frei gewesener Mensch in der Ekstase der Einigung mit der Natur, deiner Natur, in der Kälte, die das Feuer zum Menschen macht. Frei zu sein, in dir, zu küssen, zu wollen, zu träumen, so schön zu träumen, so unschuldig. So nackt in unseren Träumen. 

Und dann las ich Else... 


Porträt von Else Lasker-Schüler, 1907, Quelle: Public Domain, via: wikipedia

Else Lasker-Schüler
Sehnsucht
Mein Liebster, bleibe bei mir die Nacht.
Ich fürchte mich vor den dunklen Lüften.
Ich hab' so viel Schmerzliches durchgemacht
Und Erinnerung steigt aus den Totengrüften.
Ich fürchte mich vor dem Heulen der Stürme
Und dem Glockengeläute der Kirchentürme,
Vor all' den Thränen, die heimlich fließen
Und sich über meine Sehnsucht ergießen.

Leg deine Arme um meinen Leib,
Du mußt ihn wie dein Kind umfassen;
Ich seh' im Geiste ein junges Weib -
Das Weib bin ich - von Gott verlassen .....
Mein Liebster, erzähle von heiteren Dingen!
Und ein Lied von Maienlust mußt du singen!
Und herzige Worte und schmeichelnde sag -...
Damit sie die Raben des Schicksals verjagen.

Mein Liebster, siehst du die bleichen Gespenster?
Von mitternächtlichen Wolken getragen...
Sie klopfen deutlich ans Erkerfenster.
Ein Sterbender will »Lebewohl« mir sagen.
Ich möchte ihm Blüten vom Lebensbaum pflücken....
Und die Schlingen zerreißen, die mich erdrücken!
Mein Liebster, küsse, - küß' mich in Gluten
Und laß deinen Jubelquell über mich fluten!

13. Januar 2017

Better than sex

Ein Lauf ums Leben, ein kleiner Tod, der wahre Jazz, der heute meine Schmerzensgrenze überschritten hatte. 

Abschlussszene aus "Whiplash"