23. August 2013

9. August 2013

Jewtuschenko

Der große russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko, der Autor des Gedichtes "Babij Jar", war 1991 zu Gast in der ukrainischen Zeitung "Kijewskaja Prawda". Ich übersetze ihn kurz aus seinem Interview: "Es war meine Pflicht vor dem Gedächtnis der Ermordeten... Ich hoffe, dass solange die Erinnerung an Babij Jar in unsere Herzen schlägt, es unmöglich sein wird, uns in dem Leben bis hin zu dem Gefühl der Überlegenheit einer Nation über die andere zu sinken... Ich betrachte den Antisemitismus als eine Art des Antipatriotismus, als Erniedrigung des Ansehens seiner eigenen Nation." 
[Danke an meinen Papa für diesen wunderbaren Hinweis.]

Ich musste tief schlucken, als ich mir die Rezitation von "Babij Jar" von Jewtuschenko selbst auf Russisch anhörte. Als er das Gedicht 1961 geschrieben hatte, brach er damit das lange Schweigen über die ganze Tragödie... und den Antisemitismus an sich. Und wer schwieg. Alle... Seine russische Seele hat es nicht ausgehalten und hat ein unvergessliches Stück Literatur erschaffen...

Hier liest er sein Gedicht auf Englisch (mit russischen Sequenzen):


Für Russischsprachige ist im nachfolgenden Video seine unglaubliche Lesung in der Originalsprache Russisch zu finden:


Zum Nachlesen ist die englische Übersetzung auch hier.
Große Sammlung seiner Gedichte und Prosa auf Russisch findet sich hier.

8. August 2013

Vater

Aufgewühlt. Ziemlich aufgewühlt bin ich. Kürzlich ist das Buch „Lebenswege und Jahrhundertgeschichten: Erinnerungen jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Nordrhein-Westfalen“ erschienen (in zwei Sprachen: Russisch und Deutsch). Ich halte es gerade auf meinen Knien. Eine der vierzig Geschichten in diesem großen und ergreifenden Bildband ist die Geschichte meines Vaters. (Jedem der Erzählenden sind 12 Seiten gewidmet.) Diejenige von meinem Vater endet mit seinen Worten zum Endpunkt der sowjetischen Repressionen: „1956 wurde ich aus dem Lager entlassen, aber erst 1987 rehabilitiert. Ich kam einmal nach Hause und wusste schon, dass ein Schreiben vom Militärkollegium des Obersten Gerichts eintreffen muss. Ich öffnete den Umschlag und las es schnell durch, unten sah ich „rehabilitiert“. Ich begann laut aufzuheulen. Und meine achtjährige Tochter fragte leise: „Papa, warum weinst du?“ Ich sagte: „Tochter, 36 Jahre und zwei Monate. Mir wurden 36 Lebensjahre gestohlen.“


"Seit Beginn der 1990er Jahre haben über 200.000 Menschen jüdischer Herkunft die frühere Sowjetunion verlassen, um nach Deutschland einzuwandern. Zehntausende kamen nach Nordrhein-Westfalen und haben dort die jüdischen Gemeinden auf unverhoffte Weise belebt. Vor allem die älteren jüdischen Zuwanderer brachten vielfältige Erinnerungen und historische Erfahrungen mit nach Deutschland. Sie waren im sowjetischen Regime aufgewachsen, haben unter dem Stalinismus gelitten – und den Krieg und nationalsozialistischen Völkermord mit Glück überlebt. Im vorliegenden Buch erzählen 40 dieser Menschen aus ihrem Leben, von den Zeiten nach der Russischen Revolution bis zu den Erfahrungen in Deutschland heute. Ihre Lebensgeschichten stellen einen wichtigen Beitrag dar, nicht nur zur jüdischen Geschichte, sondern zur Geschichte eines ganzen Jahrhunderts." (Aus der Buchbeschreibung)

Vor einem Jahr schrieb ich, was Anfang August für meinen Vater und folglich auch für mich bedeutet, welche tragische und gleichzeitig lebenstragende Rolle dabei eine so still und heimatlich auf mich wirkende Sonnenblume spielt. Ich suchte nach Heimat (hier).

1. August 2013

Lilith - II

Paradies 

Manchmal stelle ich mir vor,
Als lebten keine andren Menschen. 
Im Paradies… 
Gäbe es nur zwei 
Nur dich und mich. 

Bedeckt von Pflanzen und der Wärme.
Du wärest Reiseleiter weiser, 
Der mich des Biblischen belehrt. 
Ich wäre jung und unerfahren, 
Mit feuchtem Haar 
Dir Wangen glühend zuwendet. 
Dein Körper gleicht einem von wilden Tieren. 

Mein Land ist heilig. 
Dies Land kennst du besser als ich. 

06.-07. Juni 2013 




Das Heilige in mir 

Unter der Haut, 
Mit deiner Hand unter ganz deinen Rippen 
Berührtest du 
Das Heilige in mir. 
An jener Stelle war die Eva, deine Frau, 
Dir entschnitten. 
Fühle mein Herz, mein Schreiborgan, 
Das dir dabei entglitten. 
Es hat den Beat, 
Den eigenartigsten von allen. 
Es hat den Schmerz 
Zur Melodie der Lebenszeit erklärt. 

30. Juli 2013, zwischen 08:45 und 08:55 




Zähne 

Ich bin ganz dein, beschmückt mit Kränzen frischer Zähne, 
Die du nie jagen gingst, von Löwen – gelb und grün. 
Ich trage diese Blumen stolz um meine Haare. 
Deine Blumen. 
Gib mir nicht Rosen, auch gar keine Schwüre. 
Deine Wärme. 
Sei morgens da, wenn meine Lippen suchen. 
Halte meine Füße. 
Vergiss Vernunft und andere Parolen, 
Die Frauen, geschart um dich. 
Ich bin ganz dein, beschmückt mit Kränzen deiner Worte. 
Sei morgens da, doch wenigstens im Brief. 

30. Juli 2013, zwischen 08:45 und 08:55 



Hast du gestern keine Kirschen im Bett entdeckt? Ich war neben dir, du bist im Gras bei unserem letzten Ausflug einfach eingeschlafen. Wir beide barfuß. Ich ließ einen nassen Pfirsich deine Brust nach unten gleiten. Ganz vorsichtig. Du schliefst so friedlich weiter… Und ich nahm einen Grashalm und streichelte deine Wange damit, doch träumtest du so fest, deine Lippen waren klein wenig offen. Du hättest nur meinen Geruch bemerkt und ließt deine Augen trotzdem noch zu…. Nach Blumen strömte es. Weil ich einen Blumenkranz geflochten hatte, aus Löwenzahn, und du ihn gar auf deinen Haaren trugst. Ich wollte dich wecken. Ich hatte ein Buch, ein leichtes Kleid, und wir hatten sogar einen alten Schallplattenspieler, den man mitnehmen kann und von Hand aufdrehen muss. Was wir hörten, kann ich nicht mehr sagen. Vielleicht weißt du es? Kannst du dich noch daran erinnern? Ich wollte dich wecken, mit einer kalten, dunkelgereiften Kirsche durch dein Gesicht führen, deinen ersten Blick sehen und deine Hand, die mich wie einen Geist wegstoßen wird, weil unerwartet für dich. Ich hätte deine Hand leicht gebissen… Deine verschlafenen, ungläubigen Augen hätte ich gern gesehen.


Solche Musik, die dir keine Möglichkeit gibt, ihr zu entkommen, ist tückisch... Es gleicht einem Gefühl, das man doch endlich, endlich zur Erlösung kommen möchte, aber sie hält dich weiterhin im Zustand der Erregung fest und steigert ihn nur von Minute zu Minute.  Nimm die Kopfhörer nicht ab...

Gramatik "Epic Destiny"


Lilith... Vor anderthalb Monaten sah ich sie flüchtig und konnte seit dann nicht mehr vergessen. Wie verführerisch sie aussah, magisch war ihr Körper, ihre geschlossenen Augen verbargen Geheimnisse, die ich vorher gar nicht kannte... In einem Bildband. Das Buch hatte ich jemandem geschenkt, während ich selbst in meinem roten Kleid, das alles von mir preisgab und gleichzeitig bedeckte, die Augen Kölns einen Tag lang stehlen durfte... "Femme fatale: Faszinierende Frauen" (hier kann man in das Buch reinschauen).

Bild: John Collier, Lilith, 1887, via wikipedia

Danach las ich die Geschichte erster Frau Adams, die Lilith hieß. Es folgt nur der Anfang davon, ich empfehle wirklich dem Link zu folgen und den Midrasch zu Ende zu lesen. Nie hätte ich gedacht, eine derart starke Erzählung um die Rechte einer Frau im Religiösen zu finden:
"Ein jüdisch-feministischer Midrasch zu den Jamim Noraim:
Für eine Versöhnung mit Lilith
von Marianne Wallach-Faller

Jüdische Feministinnen verwenden gern die alte Form des Midrasch, um ihre Anliegen zu formulieren. Besonders um die Gestalt Liliths, der ersten Frau Adams (nach einer Interpretation des ersten Schöpfungsberichts), kreisen solche neuen Midraschim gern. Der folgende Midrasch übernimmt Elemente der alten Erzählungen um Lilith. Er schreibt aber auch den bekanntesten feministischen Midrasch weiter, Judith Plaskows "Das Kommen Liliths". 

Am Anfang schuf Gott Adam und Lilith aus dem Staub der Erde und blies ihnen den Lebensatem ein. Da sie beide gleich erschaffen worden waren, waren sie einander in jeder Hinsicht gleichgestellt. Adam, als Mann, passte dies nicht, und er verlangte von Lilith, dass sie sich ihm unterordne. Lilith weigerte sich, rief Gottes heiligen Namen an und flog weg. Sofort beklagte sich Adam darüber bei Gott. Gott schickte drei Boten zu Lilith, um sie zur Rückkehr zu Adam aufzufordern. Sonst werde sie bestraft. Lilith aber wollte nicht mit einem Mann zusammenleben, der sie nicht als Gleichgestellte behandelte, und sie beschloss, dort zu bleiben, wo sie war. 
Als Ersatz für Lilith „baute" (banah, 1. Mose 2. 22) Gott für Adam eine zweite Frau aus Adams Seite: Eva, die nun nicht mehr gleich wie Adam „erschaffen" (jazar, 1. Mose 2. 7), sondern als „eine Hilfe ihm gegenüber" „gebaut" wurde. Während des Schöpfungsprozesses wurde so, entgegen Gottes ursprünglichem Schöpfungsplan, die Frau verkleinert – so wie dies auch beim Mond gegenüber der Sonne geschehen war (Chullin 60 b)." auf hagalil weiter lesen

Jüdische Frauen haben auch ein unabhängiges, feministisches und freidenkendes Magazin gegründet, das "Lilith" heißt.