Heute fragte mich jemand: Warum bist du allein?
Nichts konnte ich ihm entgegnen und nicht mal "weil".
November badet mich im Regen kalt und blass,
Das Wort "Warum" entzieht sich seiner dunklen Pracht.
Das Haar des Herbstes trocknet sich zum Gold,
Sein Anblick ändert sich, wenn ich ihn furchtlos kost'.
12. November 2012
Heute ist es mir nach ...
... Thomas Brasch (19.02.1945 - 03.11.2001)
Lied
Für B.
Wolken gestern und Regen
Jetzt ist keiner mehr hier
Ich bin nicht dagegen
Singe und trinke mein Bier
Tränen heute und Lieder
Bäume verdunkeln den Mond
Ich komme immer wieder
Dorthin wo keiner mehr wohnt
Blätter morgen und Winde
Bist du immer noch hier
Ich besinge die Rinde
Der Bäume und warte bei dir.
Wer wohnt wo
1
Und wen sie nicht gelebt haben
den sterben sie noch heute.
2
Unter den Märchen. Oder
über den Märchen. Zwischen 2 Orten
wohnen die Menschen. Beiderlei Sorten.
Ruf mich mit beiderlei Worten
Schlaflied für K.
Nacht oder Tag oder jetzt
Will ich bei dir liegen
Vom schlimmsten Frieden gehetzt
Zwischen zwei Kriegen
Ich oder wir oder du
Denken ohne Gedanken
Schließ deine Augen zu
Siehst du die Städte schwanken
In den Traum oder Tod oder Schlaf
Komm in den Steingarten
wo ich dich nie traf
will ich jetzt auf dich warten
Mehr Brasch ist hier.
Wunderbar geschrieben, einfach zerreißend:
Thomas Brasch war Haut.
"In der Haut, so sagt man, nistet die Seele des Menschen. Er hat seine Haut über diese Welt gespannt, und die Welt zerbarst. Und seine Haut zerriß. Was war das Besondere an diesem Mann? Er wirkte ja ungebärdig, und dabei war es eine zärtliche Ungebärdigkeit. Er wußte als hochentwickelter Künstler, daß Kunst das Gehärtete sein muß. Unter dem Gehärteten, unter dem Unerbittlichen des Kunsgesetzes lag aber seine Bittlichkeit. Immer, wenn Sie genau lesen, ob in Stücken, in Prosa, vielleicht ganz besonders in der Lyrik, werden Sie finden eine gebärde des Flehentlichen. Sabre nennt man in Israel die dort Geborenen. Sabre ist die Kakteenfrucht: außen stachlig und innen süß und saftig. Thomas Brasch, nicht dort geboren, war gleichwohl eine Sabre. Er hat uns eine Welt vorgeführt, vor der er die Menschen warnt. Gleichwohl hat er gesagt, sie möge nicht so sein. Das war der Impetus des Werks von Thomas Brasch. Deswegen konnte er Freund sein, deswegen konnte er die Menschen streicheln, übrigens nicht nur mit dem Wort, sondern veritabel streicheln. Eine Umarmung mit Thomas Brasch war immer gleichzeitig die Umarmung mit einem großen Stück Traurigkeit. Diese seltsame Wechselwirkung zwischen Traurigkeit, Trotz und Zärtlichkeit war, was für mich den Menschen Thomas Brasch ausmachte und was sein Werk prägte. Deswegen glaube ich, daß es lange wirken wird. Zärtlichkeit war gleichzeitig das Ungebärdige, das Nicht-akzeptieren-Wollen eines jeglichen Kodex. Ich habe mir einen Satz aufgeschrieben, mit dem er seine wunderschöne Majakowski-Auswahl im Suhrkamp Verlag vorstellte, wo er sagt, woran liegt es denn, daß wir diese Welt, diese Gesellschaft, gleich welche Gesellschaft, auch die, die Majakowski bauen wollte, nicht ertragen? Das liegt daran, daß wir, gelähmt von den vergangenen stillen Zeiten und dem kommenden endlosen Alptraum, die Arme nicht mehr hochbekommen, das einzig nötige zu tun, jede staatliche Ordnung mit all ihren Wurzeln aus unserem Leben, unserem Beruf und aus unserem Herzen zu reißen. Dieses ist zugleich die Definition eines Einsamen. Das ist die andere Seite des Thomas Brasch. Er hatte gewiß nicht allzu viele, aber ein paar sehr gute Freunde. Vielleicht ist es unangebracht, wenn ich einen Freund nenne, und das ist Kathi Thalbach. Gleichwohl war er, und wollte es auch sein, einsam bis ganz zum Schluß. Er verlor sich in dieser Welt. Vielleicht darf man erinnern an den Kleistschen Satz: „Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.“ Mit dieser Familie der Literatur, ob Büchner, ob Bertolt Brecht, aber bis hin zum anderen Großen, dem dritten großen B. Gottfried Benn, hat er diesen Zirkelschlag der Einsamkeit auch gebraucht zur Selbstdefinition seines Ich, und damit übrigens, das kann eben nur Kunst leisten, und das hat seine Kunst geleistet, daß wir uns damit auch definieren. Das ist die Leistung der Kunst, uns Augen neu einzusetzen. Dafür danke ich Thomas Brasch. Ich habe ihn geliebt, den Künstler, den Menschen. Adieu, Thomas Brasch."Fritz J. Raddatz, Auszug aus der Grabrede auf dem Dorotheenstädtischen FriedhofSuhrkamp Verlag, Klappentext, 2002
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Bild: Thomas Brasch, November 1993.
By Marion Brasch (= user Freitach) (Own work) [CC-BY-SA-2.0-de], via Wikimedia Commons
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