Ein schwüler Nachmittag zwang mich, ein Buch, Notizbüchlein
und einen bereits angebissenen Apfel einzupacken und zum nahe gelegenen See zu fahren.
Aus der Ferne glänzte seine Oberfläche wie ein frischpolierter Tisch, die Köpfe
der Badenden schaukelten winzig, als ob gereifte Kirschen, versehns
weggeschüttet, sich im Takt in dem undursichtigen Wasser bewegten. Im Gras mein
großes Handtuch ausgebreitet, fühlte ich mich erleichtert, den Schatten finden
zu können. Meinem Blick eröffnete sich eine sonst ruhige Stätte mit vielen
Kindern und Studenten, die hier ihre Picknicks feierten. Ich blieb abseits von
ihnen, genoss meine Einsamkeit und wollte erst später, wenn die Luft
unerträglich stehen würde, das Wasser berühren.
Vertieft in das Buch, dauerte meine Freiheit nicht lange.
Ich spürte auf einmal kalte Stiche auf dem Rücken und erhob erschrocken meinen
Kopf. Ein junger Mann, völlig nass, beugte sich über mein Gelesenes. Er nahm
es, schlug neugierig auf: „Hier wird nicht gelesen“, lachte er und entfernte sich. Dabei rief er
aus dem Büchlein Heine laut heraus:
"Ich halte ihr die Augen zu
Und küß sie auf den Mund;
Nun läßt sie mich nicht mehr in Ruh,
Sie fragt mich um
den Grund."
Zeit zu überlegen hatte ich nicht, es war ein Buch aus der
Bibliothek, seine Art machte mich stutzig. Ich lief ihm barfuß hinterher und bemerkte
nicht, als die Brennnessel mein rechtes Bein wie ein Schmetterling streifte. Es
brannte und ich schrie auf. Er drehte sich um und lachte. Erstaunt bemerkte ich
in der Weite das Schimmern zwischen den Bäumen, ein zweiter See war mir bis
jetzt unbekannt gewesen. Ich folgte dem Jungen,
er hat sein Tempo meinem angepasst und war plötzlich verschwunden. Ich ging weiter
und sah ihn in das Wasser springen. Am Ufer stehend, beobachtete ich seine
graziösen Schwimmbewegungen. Er winkte mir zu. Ich lachte: „Nein, ich
ertrinke.“
Bild: Gustav Klimt, "Fischblut", 1898 (Quelle: wikipedia)
„Hier kannst du nicht ertrinken, du spürst den Boden unter
den Füssen.“
Ich überlegte, was hatte ich zu verlieren. Meine Neugierde. Das
Wasser berührte meine Beine, er beugte sich zu mir und seine Hand streifte die brennende
Stelle von Brennnessel. Ich erlaubte ihm, meine Hand zu nehmen und gefahrlos ins Wasser zu gehen. Er hatte
glühend dunkle Augen, als ob er mich gleich anzünden würde. Zugleich schämte
ich mich, ihn so angestarrt zu haben. Das Wasser reichte mir bis zu meinem
Busen, ich spürte, wie seine Hand meinen Rücken rührte. „Entspann dich, ich
bringe dir das Schwimmen bei“. Ich verstand nicht, wie ich einem völlig
Unbekannten vertraute. Er schwamm eine Runde um mich und schaute mich an:
„Beweg deinen Körper, wie ich.“ Ich spürte seine Arme, seine Brust, Beine, wie
sie sich um meine schwangen und versuchte mich übers Wasser zu halten. Er neigte
mich mit dem Rücken auf die Oberfläche und hielt mit seinen Armen. Es klappte
nicht. „Du musst dich entspannen“, wiederholte er, „anders kann dich das Wasser nicht tragen“. Seine Augen
nährten sich meinen, seine Hand nahm mein Kinn sanft und führte zu seinen
Lippen. Er küsste mich mit Verzögerung. Ich verstand nicht, was geschah. Es fühlte
sich so an, als ob ich ein Kirschbaum wäre und jetzt die Blüten an meinem
Körper überall kribbelnd aufgehen würden. Ich antwortete seinen Lippen, spürte das Wasser um mich
höher, plötzlich verlor ich den Halt unter den Füssen. Er küsste mich weiter, mein Körper war eins mit dem See geworden...
Auf einmal fühlte ich kalte Stiche auf dem Rücken und hob
erschrocken meinen Kopf hoch. Ein kleines Mädchen hat mich gerüttelt und
fragte, ob es mir gut gehen würde. Ich versuchte mich zu erinnern, wo ich war.
Ich war am Strand eingeschlafen, schaute auf mein Bein, es gab keine Brennnessel-Spuren. Alles geträumt. Fast enttäuscht lächelte ich das Mädchen an. Bald
würde es dunkel werden und ich beeilte mich, dabei fiel mein Blick auf das aufgeschlagene
Buch. Neben dem Heine-Gedicht stand am Rande mit einer mir unbekannten Schrift mit
dem Bleistift frisch gekritzelt:
In meinen Armen halte ich dich wie eine Engelsharfe
Dein Haar umspielt dein goldenes Gesicht wie ein Wasserfall den Fels
In deinen dunklen, traurigen Pupillen spinnst du ein zartes Netz aus Liebe
Du atmest leise, in milden Wellen vor dich hin, ein Meer