27. August 2008

Wer sich das nur täglich sagte

"Ist es nicht genug, daß wir einander nicht glücklich machen können, müssen wir auch noch einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz sich noch manchmal selbst gewähren kann. Und nennen Sie mir den Menschen, der übler Laune ist und so brav dabei sie zu verbergen, sie allein zu tragen, ohne die Freuden um sich her zu zerstören; oder ist sie nicht vielmehr ein innerer Unmut über unsre eigne Unwürdigkeit, ein Mißfallen an uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist, der durch eine törige Eitelkeit aufgehetzt wird: wir sehen glückliche Menschen die wir nicht glücklich machen, und das ist unerträglich! Lotte lächelte mich an, da sie die Bewegung sah mit der ich redte, und eine Träne in Friederikens Auge spornte mich, fortzufahren. Weh denen sagt ich, die sich der Gewalt bedienen, die sie über ein Herz haben, um ihm die einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm selbst hervorkeimen. Alle Geschenke, alle Gefälligkeiten der Welt ersetzen nicht einen Augenblick Vergnügen an sich selbst, den uns eine neidische Unbehaglichkeit unseres Tyrannen vergällt hat.

Mein ganzes Herz war voll in diesem Augenblicke, die Erinnerung so manches Vergangenen drängte sich an meine Seele, und die Tränen kamen mir in die Augen.


Wer sich das nur täglich sagte, rief ich aus: du vermagst nichts auf deine Freunde, als ihnen Freude zu lassen und ihr Glück zu vermehren, indem du es mit ihnen genießt. Vermagst du, wenn ihre innre Seele von einer ängstigenden Leidenschaft gequält, vom Kummer zerrüttet ist, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?


Und wenn die letzte bangste Krankheit dann über das Geschöpf herfällt, das du in blühenden Tagen untergraben hast, und sie nun da liegt in dem erbärmlichen Ermattern, und das Aug gefühllos gen Himmel sieht, und der Todesschweiß auf ihrer Stirne abwechselt, und du vor dem Bette stehst wie ein Verdammter, in dem innigsten Gefühl, daß du nichts vermagst mit all deinem Vermögen, und die Angst dich inwendig krampft, daß du alles hingeben möchtest, um dem untergehenden Geschöpf einen Tropfen Stärkung, einen Finken Mut einflößen zu können."

Aus dem Briefroman von Johann Wolfgang Goethe "Die Leiden des jungen Werthers" (1774)

Besonders die letzten zwei Absätze gaben meine Gedanken wieder...

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