8. Januar 2009

Liebe als Unschuld

Vor einem Jahr verschlang ich Houellebecq und fand ihn genial:
"In Bezug auf das Liebensleben gehörte Veronique wie wir alle zu einer
verlorenen Generation. Sie war zweifellos fähig gewesen zu lieben; sie hätte sich diese Fähigkeit gern bewahrt, das will ich hiermit bezeugen; aber es ging nicht mehr. Ein seltenes, künstliches und spätes Phänomen, blüht die Liebe nur unter besonderen geistigen Voraussetzungen, die selten zusammentreffen und in jeder Hinsicht der Sittenfreiheit, die das moderne Zeitalter charakterisiert, entgegengesetzt sind. Véronique hatte zu viele Diskotheken und Liebhaber kennen gelernt. Eine solche Lebensweise lässt das menschliche Wesen verarmen, sie fügt ihm Schaden zu, die manchmal schwerwiegend und stets irreparabel sind. Die Liebe als Unschuld und Fähigkeit zur Illusion, als Gabe, die Gesamtheit des anderen Geschlechts auf ein einziges geliebtes Wesen zu beziehen, widersteht selten einem Jahr sexueller Herumtreiberei, niemals aber zwei. In Wirklichkeit zerrütten und zerstören die zahllosen, während der Zeit des Heranwachsens angehäuften sexuellen Erfahrungen jede Möglichkeit gefühlsmäßiger, romantischer Projektion. Nach und nach, tatsächlich aber sehr rasch, wird man so liebesfähig wie ein altes Wischtuch. Man führt dann unvermeidlich ein Wischtuchleben; mit fortschreitendem Alter wird man weniger verführerisch und in der Folge verbittert. Man ist eifersüchtig auf die Jungen und hasst sie daher. Dieser Hass, der uneingestanden bleiben muss, wird bösartig und immer brennender; schließlich mildert er sich und verlöscht. Es bleiben nur noch Verbitterung und Ekel, Krankheit und Warten auf den Tod."

"Ich verfiel langsam auf den Gedanken, dass all diese Leute, Männer wie Frauen, überhaupt nicht gestört waren; sie litten bloß unter einem Mangel an Liebe. Ihre Gesten, ihr Verhalten, ihre Mimik zeugten von einem herzzerreißenden Durst nach körperlicher Berührung und Zärtlichkeit; aber das war natürlich nicht möglich."

[Aus Michel Houellebecq, "Ausweitung der Kampfzone" (Originalausgabe 1994)]
Einige Zitate seiner Romane befinden sich auch im Lexikon der dunklen Zitate: Michel Houellebecq oder man kann in der Analyse seiner Werke nachschauen: Warum können wir bloß nie, nie geliebt werden?

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