31. August 2012

Picasso

Es ist ein komisches Gefühl: Seit einer Woche verspüre ich gar keine Lust, Gedichte zu schreiben.

Den heutigen Abend durfte ich mit einer Philosophin verbringen, die das zarte Alter von fünf Jahren trägt. Sie hörte mir auf Russisch zu und antwortete auf Deutsch, mich wohl verstehend. Sie erzählte von Mischka und Maschka - ihrer Lieblingsanimation - und "varenje". Ich war in die Kindheit eingetaucht.

Plötzlich musste ich an jemanden denken. Ich sah ihn im Traum. Wenn er lächelt, formen sich wunderschöne kleine Fältchen neben seinen Augen und ein graues Haar an der rechten Schläfe sehe ich gerade wieder in meinem Gedächtnis. Wenn er sich eine Pizza auswählt, ist es faszinierend ihn zu beobachten, wie philosophisch er wirkt. Wenn er mich ansieht, habe ich keine Lust, meine Augen schweifen zu lassen, und will ihn direkt ohne jegliche Angst anschauen. Als ob man in ein Meer eintaucht. Kurz vor dem Sonnenverschwinden. Zwar kennt man weder Tiefe noch Wärme des Wassers, aber man vertraut den Wellen, die dich umarmen und nicht mehr loslassen. So schaut er an. Noch nie in meinem Leben bin ich vorher in der Öffentlichkeit mit solcher Leidenschaft mitten auf der Straße in die Knie gegangen, um dem Erzählten das lebendigste Gefühl zu verleihen. Als der Wind mein Kleid fast zerrissen hatte, überkam es mich, von dem Turm in den Rhein springen zu wollen und von ihm vom Ertrinken gerettet zu werden. Auch wenn er gar kein Wort gesagt und mich nur angeschaut hätte. Wenn er meine Muttersprache spricht, lacht meine Seele. Seine dunklen Augen glühen und strahlen etwas völlig Unerklärliches, doch sehr Nahes aus. Sie erinnern mich an die Heimat. Heimat ist kein Ort, kein Heim, kein Baum, es ist das Gefühl. Es ist ein schönes Gefühl. Was ist das?

Ein Lied dreht sich in meinem Kopf seit Tagen und ich kann mich davon nicht mehr loslösen, ein schönes (hier hören)...

Heute Abend ist es mir auch nach diesem:


16. August 2012

Berlin liest Margarita

Eine schöne Idee hat das internationale literaturfestival berlin, das vom 04. bis 16. September'12 stattfinden wird, geboren. Die Berliner (jeder) wurden aufgerufen, überall in der Stadt zum Auftakt des Festivals am 04. September um 17:00 ihre Stimme der Literatur zu verleihen und zu lesen. 

Mein Herz schlug lauter und lauter, als ich sah, dass "Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow auf Deutsch (Schaperstr. 24 10719 Haus der Berliner Festspiele, Ulrich Schreiber), "Die Erniedrigten und Beleidigten" von F. M. Dostojewski auf Deutsch (Unter den Linden 10117 auf der Mitte der Straße, gegenüber der russischen Botschaft, Sigrid Weitemeyer), Gedichte von meinen Lieblingsdichtern Endre Ady, Attila Jozsef und Mihaly Babits auf Ungarisch (Potsdamerstr. 10783 Berlin, Adrienne Borros), Mascha Kalekos Gedichte (Bundesallee 77 12161 Buchhandlung Thaer, Erika Eller), "Das trunkene Schiff" von Arthur Rimbaud auf Deutsch (Bruchwitzerstr. 13 12247 eigene Haustür, Elisabeth Herrmann), "Wo kommen die Löcher im Käse her?" von Kurt Tucholsky (Bernstraße 17 12163 Berlin, Günther Rüdiger), Kurt Tucholsky: "Die Tagung" , auf Deutsch und Heinrich Heine: "König Harald Harfagar", esperanto  (Grunewaldstr. 3 10823 Berlin, Philipp Sonntag), und viele weitere auf Persisch, Russisch, Türkisch usw. rezitiert werden. 

Der originellste Ort wird sogar prämiert. Ob Heine auf Esperanto oder Erniedrigte vor der russischen Botschaft auserkoren werden? Alle Teilnehmer erhalten jedenfalls Tageskarten für das Festival.

Es gibt also noch Herzen, die für Lyrik und Literatur leidenschaftlich schlagen, wie meines. Mal schauen, ob es an diesem Tag um die Zeit kein Verkehrschaos geben wird, wenn jede Bahn mit den Gedichten überfüllt wird, die alle Fenstergläser der Großstadt sprengen lassen. 

Den Vorgeschmack auf Meister und Margarita wiederhole ich nur zu gerne.
"(...) Sie hatte widerliche Blumen von beängstigendem Gelb in der Hand. Weiß der Teufel, wie sie heißen, aber die sind die ersten, die man in Moskau bekommt. Diese Blumen hoben sich deutlich von ihrem schwarzen Frühjahrsmantel ab. Gelbe Blumen trug sie! Eine ungute Farbe. Sie bog in eine Gasse ein und drehte sich um. ...ich schwöre Ihnen, sie sah nur mich, und ihr Blick war irgendwie krankhaft. Mich beeindruckte nicht so sehr ihre Schönheit wie die ungewöhnliche Einsamkeit in ihren Augen, eine nie gesehene Einsamkeit! ....Es war qualvoll für mich, denn mir schien, ich müsse mit ihr reden, aber ich fürchtete, ich würde kein Wort herausbringen und sie würde weggehen und ich würde sie nie wieder sehen. Und stellen Sie sich vor, plötzlich sagte sie: „Gefallen Ihnen meine Blumen?“
Ich erinnere mich genau, wie ihre Stimme klang, ziemlich tief, aber brüchig... Ich ging rasch zu ihr hinüber und antwortete: „Nein!“
Sie sah mich verwundert an, und plötzlich, völlig unerwartet, wurde mir bewusst, dass ich gerade diese Frau schon mein Leben lang geliebt habe.
Die Liebe sprang uns an, wie ein Mörder in einer dunklen Gasse sein Opfer anspringt, und traf uns beide. So schlägt ein Blitz ein, so stößt ein Finnenmesser zu! Sie pflegte übrigens später zu sagen, so sei es nicht gewesen, wir hätten einander schon seit langem geliebt, ohne uns zu kennen, ohne uns je gesehen zu haben. Sie lebte damals mit einem anderen Mann ... Und ich auch, damals... (...)"
Michail Bulgakow
„Der Meister und Margarita“ "[Quelle]
Das Bild dazu wäre jenes...


Eine Liste mit den Vortragenden und den Orten findet sich hier. Lesen werden auch Autoren, Schauspieler, Buchhändler, Lehrer und  mehr. Auch eine Liste mit den Gedenkorten verstorbener Autoren gibt es, die man auch als Lesungsort auswählen könnte; zu ihnen zählen Franz Kafka, Heinrich Mann, Mascha Kaleko, Bert Brecht, Else Lasker-Schüler, Heinrich Heine und weitere. Sich für das Lesen am 04. September eintragen kann jeder unter: Anmeldung
  
P.S. Ich glaube, dass das erste Paar Augen, das einem entgegen schaut, wenn man die Seite des Festivals anklickt, dasjenige des wunderbaren Arno Lustiger ist, der in diesem Jahr leider gegangen ist...

11. August 2012

Loving Strangers

Eine Krone aus Veilchen
Und noch eine aus Sternen.
Web sie mir aus den Wunden,
Bind mich fest an den Wind.
Gleit sie mir übers Haar,
Liebster, Fremder, Begehrter.
Zieh mir Gram aus wie Kleider
Von dem Herzen und Flügeln.
Küss die Schultern in Nächten,
Nimm Geschlecht mein fragil.

11. August 2012
 

Wunderschöne Musik: Russian Red "Loving Strangers" 
(aus dem Film "Eine Nacht in Rom" von Julio Medem)

1. August 2012

Du atmest leise

Ein schwüler Nachmittag zwang mich, ein Buch, Notizbüchlein und einen bereits angebissenen Apfel einzupacken und zum nahe gelegenen See zu fahren. Aus der Ferne glänzte seine Oberfläche wie ein frischpolierter Tisch, die Köpfe der Badenden schaukelten winzig, als ob gereifte Kirschen, versehns weggeschüttet, sich im Takt in dem undursichtigen Wasser bewegten. Im Gras mein großes Handtuch ausgebreitet, fühlte ich mich erleichtert, den Schatten finden zu können. Meinem Blick eröffnete sich eine sonst ruhige Stätte mit vielen Kindern und Studenten, die hier ihre Picknicks feierten. Ich blieb abseits von ihnen, genoss meine Einsamkeit und wollte erst später, wenn die Luft unerträglich stehen würde, das Wasser berühren.

Vertieft in das Buch, dauerte meine Freiheit nicht lange. Ich spürte auf einmal kalte Stiche auf dem Rücken und erhob erschrocken meinen Kopf. Ein junger Mann, völlig nass, beugte sich über mein Gelesenes. Er nahm es, schlug neugierig auf: „Hier wird nicht gelesen“,  lachte er und entfernte sich. Dabei rief er aus dem Büchlein Heine laut heraus: 

"Ich halte ihr die Augen zu
Und küß sie auf den Mund;
Nun läßt sie mich nicht mehr in Ruh,
Sie fragt mich um den Grund."

Zeit zu überlegen hatte ich nicht, es war ein Buch aus der Bibliothek, seine Art machte mich stutzig. Ich lief ihm barfuß hinterher und bemerkte nicht, als die Brennnessel mein rechtes Bein wie ein Schmetterling streifte. Es brannte und ich schrie auf. Er drehte sich um und lachte. Erstaunt bemerkte ich in der Weite das Schimmern zwischen den Bäumen, ein zweiter See war mir bis jetzt unbekannt gewesen.  Ich folgte dem Jungen, er hat sein Tempo meinem angepasst und war plötzlich verschwunden. Ich ging weiter und sah ihn in das Wasser springen. Am Ufer stehend, beobachtete ich seine graziösen Schwimmbewegungen. Er winkte mir zu. Ich lachte: „Nein, ich ertrinke.“ 

Bild: Gustav Klimt, "Fischblut", 1898 (Quelle: wikipedia)

„Hier kannst du nicht ertrinken, du spürst den Boden unter den Füssen.“ 
Ich überlegte, was hatte ich zu verlieren. Meine Neugierde. Das Wasser berührte meine Beine, er beugte sich zu mir und seine Hand streifte die brennende  Stelle von Brennnessel. Ich erlaubte ihm, meine Hand zu nehmen und gefahrlos ins Wasser zu gehen. Er hatte glühend dunkle Augen, als ob er mich gleich anzünden würde. Zugleich schämte ich mich, ihn so angestarrt zu haben. Das Wasser reichte mir bis zu meinem Busen, ich spürte, wie seine Hand meinen Rücken rührte. „Entspann dich, ich bringe dir das Schwimmen bei“. Ich verstand nicht, wie ich einem völlig Unbekannten vertraute. Er schwamm eine Runde um mich und schaute mich an: „Beweg deinen Körper, wie ich.“  Ich spürte seine Arme, seine Brust, Beine, wie sie sich um meine schwangen und versuchte mich übers Wasser zu halten. Er neigte mich mit dem Rücken auf die Oberfläche und hielt mit seinen Armen. Es klappte nicht. „Du musst dich entspannen“, wiederholte er, „anders kann dich das Wasser nicht tragen“.  Seine Augen nährten sich meinen, seine Hand nahm mein Kinn sanft und führte zu seinen Lippen. Er küsste mich mit Verzögerung. Ich verstand nicht, was geschah. Es fühlte sich so an, als ob ich ein Kirschbaum wäre und jetzt die Blüten an meinem Körper überall kribbelnd aufgehen würden. Ich antwortete seinen Lippen, spürte das Wasser um mich höher, plötzlich verlor ich den Halt unter den Füssen. Er küsste mich weiter, mein Körper war eins mit dem See geworden...

Auf einmal fühlte ich kalte Stiche auf dem Rücken und hob erschrocken meinen Kopf hoch. Ein kleines Mädchen hat mich gerüttelt und fragte, ob es mir gut gehen würde. Ich versuchte mich zu erinnern, wo ich war. Ich war am Strand eingeschlafen, schaute auf mein Bein, es gab keine Brennnessel-Spuren. Alles geträumt. Fast enttäuscht lächelte ich das Mädchen an. Bald würde es dunkel werden und ich beeilte mich, dabei fiel mein Blick auf das aufgeschlagene Buch. Neben dem Heine-Gedicht stand am Rande mit einer mir unbekannten Schrift mit dem Bleistift frisch gekritzelt: 

In meinen Armen halte ich dich wie eine Engelsharfe
Dein Haar umspielt dein goldenes Gesicht wie ein Wasserfall den Fels
In deinen dunklen, traurigen Pupillen spinnst du ein zartes Netz aus Liebe
Du atmest leise, in milden Wellen vor dich hin, ein Meer