14. November 2010

Hannah Arendt über die Liebe - Teil 2


“One has to ask all the old questions”. Hannah Arendt über Liebe und Freundschaft:

“Solange man glaubt, dass der Mensch eine Potentialität ist, und dann noch, dass alle Menschen essentiell die gleichen Möglichkeiten haben – und darauf beruhen alle unsere moralischen Urteile -, kann man noch nicht einmal ahnen, was Liebe ist. In der Liebe tritt einem gerade nicht eine ‘potentia’ entgegen, sondern eine Wirklichkeit, mit der wir uns nur noch ohne Furcht und Hoffnung abzufinden haben.” Juli 1950; S. 14.

Pluralität. Ganz voneinander zu scheiden ist 1. die Tatsache der Pluralität der Menschen und Völker und ihre grundsätzliche Ungleichheit – ohne diese reine Vielheit gäbe es keine Politik, ohne diese grundsätzliche Ungleichheit bedürfte es keiner Gesetze; und 2. die Tatsache, dass ‘Liebe die Liebe braucht’, d.h. dass kein Mensch allein existieren kann, ausgedrückt in der Zweigeschlechtlichkeit. Hier sucht (oder bedarf) der Eine des Zweiten (und es entspringt der Dritte); im Falle der Vielheit, umgekehrt, hat der Eine immer schon zu rechnen mit und ist angewiesen auf – nicht einen Zweiten - , sondern Andere. Im Falle der Liebe sucht er das ihm Gemässe, im Falle der Vielheit hat er zu rechnen mit den ‘Ungemässen’, Fremden, Verschiedenen. Die fundamentale Differenz zwischen dem Brauchen, das aus der Zweigeschlechtlichkeit entspringt oder wenigstens in ihr vorgezeichnet ist, und dem Aufeinanderangewiesensein, das in der Vielheit liegt.
Wo immer (und das heisst überall in der abendländischen Tradition) man die Familie als die Urform der menschlichen politischen Gemeinschaft setzt, hat man diese beiden Sachen identifiziert. Und daraus entspringt dann der ganze Höllenspektakel – d.h. die gleichzeitige Perversion der politischen Verhältnisse und der ‘Liebes’ – und Familienverhältnisse.” Oktober 1950; S. 38

“Liebe und Ehe
Liebe ist ein Ereignis, aus dem eine Geschichte werden kann oder ein Geschick.
Die Ehe als Institution der Gesellschaft zerreibt dies Ereignis, wie alle Institutionen die Ereignisse aufzehren, auf denen sie gegründet waren. Institutionen, die sich Ereignisse gründen, halten der Zeit so lange stand, als die Ereignisse nicht völlig aufgezehrt sind. Vor solchem Verzehrt-werden sind nur Institutionen sicher, die auf Gesetzen basieren. Solange die Ehe, immer zweideutig in dieser Hinsicht, als unscheidbar galt, war sie doch wesentlich auf dem Gesetz, nicht auf dem Ereignis der Liebe gegründet und damit eine echte Institution.
Inzwischen ist die Ehe zur Institution der Liebe geworden, und als solche ist sie noch um ein weniges hinfälliger als die meisten Institutionen der Zeit. Die Liebe wiederum ist seit ihrer Institutionalisierung ganz und gar heimat- und schutzlos geworden.
Dagegen protestieren Männer wie Frauen, jeder auf seine Weise. Beide versuchen, die zunehmende Flüchtigkeit der Liebe, ihre zunehmende Substanzlosigkeit zu verhindern. Die Frauen, indem sie aus der Liebe, die ein Ereignis ist, ein Gefühl machen, was nicht nur die Liebe degradiert, weil ein Göttliches zu einem Menschlichen gemacht wird, sondern auch alle Gefühle degradiert, weil sie offenbar dem Feuer der Liebe, an dem sie gemessen werden, nicht standhalten. Der Irrtum kommt daher, dass die Liebe sich im Herzen der Menschen einnisten; das menschliche Herz ist die Wohnung, aber nicht die Heimat! der Liebe; das Missverständnis ist zu glauben, die Liebe entspringe dem Herzen und sei daher, mit einem weiteren Missverständnis, vom Herzen wie ein Gefühl hervorgebracht. [...] Zur Abgrenzung: Gefühle habe ich; die Liebe hat mich. Freundschaft ist wesensmässig abhängig von ihrer Dauer – eine zwei Wochen alte Freundschaft existiert nicht; die Liebe ist immer ein ‘coup de foudre’.” Dezember 1950; S. 49-51.

“(Dass die Liebe von der Verlassenheit erlöst, ist ein Vorurteil. Der wirklich Verlassene kann nicht lieben, so wenig wie der, der völlig in der gemeinsamen Welt sich aufgegeben hat. Dieser Zusammenhang von Verlassenheit und Verlorensein in der gemeinsamen Welt ist das eigentlich amerikanische Phänomen. Daher die Unfähigkeit der Amerikaner zu lieben.)” Juni 1951; S. 214.

“Ad Pluralität: Die Pluralität, die sich am reinsten in der ins Unendliche sich fortsetzenden und aus sich selbst sich erzeugenden Zahlenreihe darstellt, ist ursprünglich nicht in der Vielheit der Dinge, sondern in der Bedürftigkeit des Menschen, der als Einer geboren den Zweiten braucht, um sich des Fortgangs in den Dritten, Vierten und so fort zu sichern. […] Was aber hier, im Ursprung der Zeugung, gezählt wird, beziehungsweise sich zählt, ist niemals das völlig Disparate, dem die Zahl zu einer abstrakten Einheit verhülfe […], sondern das wesensmässig ‘Selbe’ (wie Heidegger sagt, im Gegensatz zu dem bloss Gleichen), das sich in biblischer Sprache als ‘im Ebenbild’, […] ausspricht. Diese Ebenbildlichkeit auf die Schöpfung des Menschen durch Gott zu beziehen, ist der tiefste und darum verderblichste Anthropomorphismus in dem abendländischen Gottesgedanken. In unserem Ebenbilde erzeugen wir unsere Kinder - nicht das uns ‘Gleiche’, aber das Selbe, was wir sind. Gott aber ist gerade das absolut Nicht-‘Selbe’. Durch diesen Anthropomorphismus kam der verderbliche Unsinn von dem Menschen in die Metaphysik.” Juli 1952; S. 218f.

“Experimental Notebook of a Political Scientist: To establish a science of politics one needs first to consider all philosophical statements on Man under the assumption that men, and not Man, inhabit the earth. The establishment of political science demands a philosophy for which men exist only in the plural. Its field is human plurality. Its religious source is the second creationmyth – not Adam and rib, but: Male and female created He them. In this realm of plurality which is the political realm, one has to ask all the old questions – what is love, what is friendship, what is solitude, what is acting, thinking, etc., but not the one question of philosophy: Who is Man, nor the Was kann ich wissen, was darf ich hoffen, was soll ich tun?” Januar 1953; S. 295.

“Der Akkusativ der Gewalt wie der Liebe zerstört das Zwischen, vernichtet oder verbrennt es, macht den Andern schutzlos, beraubt sich selbst des Schutzes. Dagegen steht der Dativ des Sagens und Sprechens, der das Zwischen bestätigt, im Zwischen sich bewegt. Dann gibt es noch den Akkusativ des singenden Gedichts, das das Besungene, ohne irgend etwas zu bestätigen, aus dem Zwischen und seinen Relationen löst und erlöst. Wenn die Dichtung, und nicht die Philosophie, verabsolutiert, ist Rettung da.” August 1953; S. 428.

“Wir verstehen einander gewöhnlich nur in einem Zwischen, durch die Welt und um der Welt willen. Wenn wir einander direkt, unvermittelt, ohne Bezug auf ein zwischen uns liegendes Gemeinsames verstehen, lieben wir.” August 1953; S. 428."
Bild: Quelle

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hui, Du bist ja in guter Blogge-Form heute nacht! Gut! :-)

Ann hat gesagt…

Denn die Nächte sind nicht zum Schlafen da...

Anonym hat gesagt…

Nein, hoffentlich nicht! ;-)

(Und: ach, Pardon für die blöde Bemerkung, es kam mit halt gerade so in den Kopf.)