14. November 2010

Das eigene Herz mit Dostojewskij klopfen hören


Von der Existenz dieser einzigartigen Frau erfuhr ich erst, als es zu Ende war. Am 07. November starb im Alter von 87 Jahren Swetlana Geier - die Übersetzerin der fünf bedeutendsten Werke Dostojewskijs ins Deutsche. Mit 65 Jahren fing sie ihre Meilensteinarbeit an. Erst Anfang dieses Jahres kam ins Kino eine sehr feinfühlige Dokumentation von Vadim Jendreykos über sie und ihre Arbeit: "Die Frau mit den fünf Elefanten".
"Auf die Frage, ob sie ihr Leben selbst als filmtauglich erachte, sagte Geier dem SPIEGEL: "Ich habe bestimmt 40 Jahre meines Lebens die Unsichtbarkeit geübt, das ist für mich die Rolle meines Lebens." weiter lesen
Ein wundervoller Trailer des Films:


Einen weiteren und sehr interessanten Einblick in den Film erfährt man online in dieser ZDF-Sendung.


Sie war die Frau mit den fünf Elefanten

"Eine zarte Frau mit einem feinverästelten Gesicht, das wunderbar lächeln konnte. Klein, gebeugt ging sie. Sie hatte schließlich schwere, schwerwiegende Bücher von einer Sprache in die andere getragen. Beinahe ein Leben lang. Fünf Elefanten vor allem hat Svetlana Geier getragen. Zwei Bände "Brüder Karamasow", "Verbrechen und Strafe", "Ein grüner Junge", "Böse Geister". Svetlana Geier hat sie ins Deutsche getragen, ihnen neue Titel gegeben ("Schuld und Sühne" beispielsweise wurde zu "Verbrechen und Strafe"), sie im Deutschen neu erfunden (aber das hätte sie bereits als Anmaßung empfunden). Ungestraft, so hat sie einmal gesagt, übersetzt man das nicht.
(...)
Fünfzehn war Svetlana, als er 1938 während Stalins Säuberungen verhaftet und Monate lang gefoltert wurde. Er blieb noch ein halbes Jahr am Leben, nachdem er als einer der wenigen frei gekommen war.
Svetlanas Mutter ließ sie Deutsch lernen. Die Sprache wurde ihre Aussteuer, ihr Überlebensmittel. Am Tag, als die Deutschen die Sowjetunion überfielen, absolvierte sie ihre Abitursprüfungen. Die Deutschen konnten kaum schlimmer als Stalin sein. Dachten viele. Bis die Juden von Kiew in langen Reihen durch die Schlucht von Babij Jar geführt wurden. Svetlanas beste Freundin war unter ihnen. Die Schüsse aus der Schlucht konnte man bis in die Stadt hören. Svetlana Geier hatte sie noch im hohen Alter im Ohr: "Das hört nie auf. Das ist nie Vergangenheit geworden."
Eines Tages stand ein deutscher General vor der Tür. Er hatte sich verfahren. Svetlana erklärte ihm den Weg, auf Deutsch. Er suchte eine Haushälterin. Ein gebildeter Mann. Ein gebildeter Mann. Er nahm Svetlanas Mutter als Haushälterin, förderte Svetlana, verschaffte ihr ein Stipendium. Dann mussten die Deutschen fliehen, Svetlana und ihre Mutter auch. Als Angehörige eines politischen Gefangenen und Übersetzerin für den Feind hätten sie nicht lange überlebt. Gegen heftige Widerstände erhielt sie einen deutschen Fremdenpass. Svetlana Geier, die Schüsse von Babij Jar noch im Ohr, hatte Respekt vor einem Land, in dem jemand wie sie, den niemand retten musste, gerettet wurde. Übersetzen, hat sie gesagt, sei eine Möglichkeit, ihre Schulden gegenüber Deutschland abzuzahlen. (...)" weiter lesen


Das eigene Herz mit Dostojewskij klopfen hören

"In einem Alter, in dem die meisten Menschen sich nach der Sonne sehnen, hat sie erst richtig begonnen. Sie war 65, als sie den Vertrag für die Neuübersetzung der großen Romane Dostojewskijs unterzeichnete, aber wer ihre blauen Augen je hat blitzen sehen, zweifelte keine Sekunde daran, dass sie diesen sich selbst gesetzten Auftrag erfüllen würde. In ihrer Sicht der russischen Literatur hatte sich von Puschkin aus der Weg gegabelt: auf der einen Seite ging es über Tolstoj zu einer realistischen dokumentarischen Literatur, die andere führte über Gogol und Dostojewskij zu einer Literatur der Fragen und der Poesie. Und ihr gehörte ihr Herz: sie wollte es mit Dostojewskij klopfen hören, mit Puschkin singen und mit Bunin klagen. Und sie nahm ihre Autoren beim Wort: aus 'Schuld und Sühne' wurde 'Verbrechen und Strafe', aus den 'Dämonen' 'Böse Geister'. War sie einmal zufrieden, gab es Rinderbraten in russischer Soße und als Dessert den Novalis-Satz, am Ende sei doch alle Poesie Übersetzung.(...)" weiter lesen

Ein weiteres Portrait, als sie ihren letzten Elefanten beendet hatte: Ein grüner Junge" ist für Swetlana Geier der modernste Dostojewski (2007)

1 Kommentar:

Jatman hat gesagt…

Vielen Dank für den ZDF-Mediathek-Hinweis. Der Film lief ja leider nur in Programmkinos. Ich bin jedoch sehr neugierig auf ihn, da die Biographie von Frau Geier, der von ihrem „Geliebten“ Dostojewski kaum in etwas nachsteht.
Auch ich werde wohl, durch S. Geier angeregt nochmals zu den Dämonen greifen. Für Dostojewskiinteressierte kann der Link http://dostojewski.npage.de vielleicht auch etwas erklären, was frau Geier an Dostojewski und sein Werk „gefesselt“ hat.